„Und außerdem”, fügte er nach einer Pause hinzu, „sollten wir uns auch schon allein deshalb aus dem Staub machen, weil wir ja von Sicherheitskräften befragt worden sind, woher wir kommen. Möglicherweise werden wir verdächtigt, etwas mit dem Anschlag zu tun zu haben. Vielleicht hat ja der Sicherheitsbeamte, der uns gesehen hat, den Anschlag überlebt und gibt eine uns belastende Aussage zu Protokoll. Ich für meinen Teil möchte jedenfalls keine Bekanntschaft mit libanesischen Gefängnissen machen.”
Ahmad sah erneut Mouad an. Dessen Gesicht war inzwischen aschfahl. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er wollte aufstehen - seine Beine gehorchten ihm jedoch nicht mehr.
Mouad stand unter Schock. Er kollabierte. Ahmad fing ihn gerade noch rechtzeitig auf.
„Dich scheint die Tatsache, dass wir gerade dem Tode entronnen sind, doch mehr mitzunehmen, als du zugeben willst”, brummte Ahmad leise, als er seinen Freund emporhob, ihn erneut auf seinen Rücken nahm und mit ihm in Richtung seiner Wohnung davoneilte.
Weit war es für gewöhnliche Fußgänger eigentlich nicht. In knapp 20 Minuten würde man in die etwas ruhigere Seitenstraße gelangen, in der Ahmad wohnte: Die Rue Maarad, Nummer 8, fünfter Stock. Aber mit einem völlig ausgepowerten Mouad auf dem Rücken, der die ganze Zeit leise vor sich hin stöhnte, war es für ihn ein Weg, der ihn bis an die Grenze seiner Belastbarkeit führte. Dazu kam, dass er immer wieder obdachlosen Flüchtlingen und bettelnden Kindern ausweichen musste.
,Das Überleben in diesem Teil der Welt ist schon für Minderjährige extrem hart!’, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.
Er verdrängte diesen Gedanken fast augenblicklich, da er es nicht wagen konnte, eine Pause einzulegen. Seine Sorge war einfach zu groß, in irgendwelche Gespräche mit Passanten verwickelt zu werden, die sich entlang ihres Weges immer wieder nach ihnen umdrehten und zu tuscheln begannen.
Endlich bog er in die Straße ein. Rechts und links verwahrloste Art-Nouveau-Villen, an deren Fassaden sich großflächig graubrauner Putz abgelöst hatte. Durch eine verschnörkelte Haustür aus der Belle Epoque, die glücklicherweise offenstand, stolperte Ahmad in einen Eingangsbereich. Dieser war mit farbigen Wandfliesen ausgekleidet, die weit geöffnete Seerosen über geschwungenen Wasserranken mit überdimensionierten Blättern zeigten. Eine enge Holztreppe, die von einer üppigen, aus Mahagoni geschnitzten Jugendstilschönheit bewacht wurde, führte nach oben. Erschöpft erreichte Ahmad endlich seine Wohnung unter dem Dach.
Durch die halbgeöffneten Dachfenster drang das Sirenengeheul von Rettungs- und Polizeifahrzeugen nach oben. Ahmad merkte auf: Sogar eine Personenbeschreibung, die auf ihn zutreffen könnte, wurde durch Lautsprecherdurchsagen verbreitet.
Als Mouad erwachte, dämmerte es bereits. Durch ein schräg verlaufendes Gaubenfenster, das sich nach Westen öffnete, fiel rötliches Licht der untergehenden Sonne und übergoss das Zimmer mit zarten Pastelltönen. Er erkannte, als er seinen Kopf drehte, weitere Umrisse des spartanisch eingerichteten Raumes: Bett, Schrank, zwei Stühle und Tisch, auf dem sich ein Rechner mit LED-Schirm befand. Gegenüber dem Eingang erblickte er eine Kochnische mit zweiflammigem Gasöfchen und einen Kühlschrank. Dusche und Toilette befanden sich auf dem obersten Absatz im Treppenhaus - außerhalb der Wohnung.
Ahmad stützte sich mit beiden Ellenbogen auf dem breiten Sims, der unter dem schrägen Dachfenster verlief. Er blickte in den tiefroten Ball der Sonne, dessen Rand soeben in den silbrig-blauen Fluten des Mittelmeeres versank.
Er wandte sich um. Mouad stöhnte leise. Die kreislaufstabilisierende Injektion, die Ahmad ihm gestern Abend nach ihrer Flucht vom Ort der Terrorattacke verabreicht hatte, zeigte endlich Wirkung: Mouad erwachte allmählich aus seinem Erschöpfungsschlaf.
„Wie geht es dir?”, fragte er sanft, während er sich vor ihn auf einen der beiden Stühle setzte.
„Ich leide immer noch unter den furchtbaren Bildern des gestrigen Anschlags. In meinem bisherigen Leben habe ich so etwas noch niemals mitgemacht. Aber ich kann wenigstens wieder halbwegs klar denken.”
Ahmad blickte in die fast schwarzen Augen Mouads, die ihn aufmerksam musterten. Er verspürte keine Spur von Arroganz mehr in diesem Blick. Nur noch Dankbarkeit und Wärme.
Mouad ergriff seine Hand: „Das, was du für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen.”
Ahmad setzte sich zu Mouad auf die Bettkante, zog ihn hoch und umarmte ihn.
„Danke”, flüsterte dieser.
Ahmad erkannte, dass Mouad offensichtlich in seinem Innersten eine sehr mitfühlende Art hatte. Die liebevollen Blicke, die beide miteinander austauschten, die menschliche Wärme, die er im Moment ausstrahlte und sein ruhiges, ausgeglichenes Wesen, ließen Ahmads Zuneigung gegenüber Mouad allmählich wachsen.
Ahmad dachte an den ersten Augenblick zurück, an dem sie sich kennengelernt hatten: Das Leuchten in Mouads Augen, der zärtliche Blick - dies würde immer in seinem Herzen sein.
Mouad gab sich einen Ruck.
„Ich denke, ich gebe mal meinen Eltern Bescheid, wo ich stecke.” Er griff nach seinem Handy, das auf dem schlichten Holztisch neben dem Bett lag und tippte eine Nummer ein.
„Welche Hausnummer und welche Straße ist das hier? Ich habe nicht registriert, wohin wir gelaufen sind.”
Er nickte kurz, als Ahmad ihm die gewünschten Informationen gab.
Mouad wartete, bis die Verbindung stand und führte bald auf arabisch ein lebhaftes Gespräch mit seinem Vater, dem offensichtlich nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, dass sein Sohn bei einem Fremden übernachtete. Weil Mouad mehr als einen Tag lang nichts von sich hatte hören lassen, war Wahid Bribire über sein Verhalten ziemlich aufgebracht. Aber angesichts der vergangenen Ereignisse und des noch bestehenden Risikos auf Beiruts Straßen willigte er schließlich doch ein. Er erwartete jedoch, dass sein Sohn am nächsten Tag sofort nach dem Ende der offiziellen Begrüßungsfeier der Studierenden, die auf Grund einer schweren Erkrankung des Rektors um über drei Monate verschoben worden war, nach Hause käme. Nicht, weil er ihn in seiner Freiheit einschränken wollte. Aber er rechnete fest damit, dass sich die politische Lage in Beirut in nächster Zeit erheblich zuspitzen würde.
Nachdem das Gespräch beendet war, sagte Mouad, wobei er vernehmbar einen Seufzer der Erleichterung ausstieß: „Das ist ja besser gelaufen, als ich dachte.”
Ahmad nickte zustimmend, da er die Nuancen in Mouads Stimmführung genau registriert hatte und dabei feststellen musste, dass sich sein Gegenüber möglicherweise zu große Kopfschmerzen über die mögliche Reaktion seines Vaters gemacht hatte.
Mouad warf seinem Gegenüber einen nachdenklichen Blick zu.
„Auch wenn ich unter Schock stand, habe ich die merkwürdige Situation heute Mittag nicht vergessen: Du hast mir die Fragen, die ich dir unmittelbar nach dem Anschlag gestellt hatte, immer noch nicht beantwortet. Warum leben wir beide noch, während um uns herum fast alles Leben ausgelöscht wurde? Und was ist aus der Kamera geworden? Ist die zerstört worden?”
Ahmad antwortete nicht sofort darauf. Er spürte, dass Mouad ihn mit seinen Blicken durchbohrte, um hinter die Geheimnisse der für ihn unerklärlichen Geschehnisse zu kommen.
,Dieser Mann ist kein Dummkopf. Aber noch ist es viel zu früh, ihn in nähere Details meines Aufenthalts in diesem Land einzuweihen’, dachte er.
„Die letzte Frage ist besonders leicht zu beantworten. Das Gerät habe ich augenblicklich weggeschleudert, als ich mich auf dich warf.”
Für einen Moment schien es Mouad, als müsste Ahmad erst genau darüber nachdenken, was er sagen sollte.
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