„Du kannst deinem Gehirn aber nicht befehlen, mit der Verarbeitung des entsetzlichen Geschehnis aufzuhören.”
„Was soll ich denn tun?”, raunte Mouad. Seine Verzweiflung wirkte beinahe körperlich.
„Ich könnte mich, wenn du es gestattest, neben dich legen und dich einfach nur in den Arm nehmen. Dann spürst du mich vielleicht auch im Schlaf und verlierst deine Furcht.”
Mouad dachte nach. Er fühlte sich so hilflos - und sehnte sich zugleich nach Geborgenheit.
„Komm bitte zu mir”, meinte er zögernd. Er blickte in Ahmads Gesicht, als dieser sich neben ihm ins Bett legte.
„Ich habe eigentlich noch nicht richtig geschlafen”, meinte Mouad nach einer Weile.
„Ich weiß, Mouad. Ich auch nicht.”
Ahmad schaltete das Licht aus und ergriff seine Hand.
„Worüber denkst du nach?”, begann Mouad.
Er stützte sich auf seinen Ellbogen und sah halb aufgerichtet auf Ahmad hinüber, der ihm sein Gesicht zuwandte. Draußen war es inzwischen völlig dunkel. Das Weiße seiner Augen war noch gerade zu erkennen.
„Über viele Dinge: Die Zukunft dieses Landes, was aus unserem Studium wird, sollte das politische Chaos weiter um sich greifen, was man dann aus seinem Leben machen soll...”, antwortete Ahmad im Flüsterton.
„Ich vermisse in diesem Land mehr und mehr die Mitmenschlichkeit - wie du es auch schon mal gegenüber mir geäußert hast. Ich denke in dieser Hinsicht genauso. Mein Vater hat mir schon als Kind erzählt, dass die Menschen früher viel hilfsbereiter waren. Es kam damals einfach nicht immer wieder zu solchen menschenverachtenden Szenen, die ich bis jetzt schon zweimal in meinem Leben miterleben musste. Jeder Mensch ist hier ein Gegner des anderen. Insbesondere, wenn es sich um verschiedene politische oder religiöse Gruppen handelt. Aus dem Verhalten eines jeden Einzelnen, seiner Mimik, kann man dann auch noch obendrein schließen, welche Gedankengänge jemand hat. Ob man tolerant, offen, hartherzig oder verbohrt ist. In manchen Situationen können solche offenen Gefühlsregungen sehr gefährlich werden.”
Allein schon Gedanke daran ließ ihn erneut erschaudern - seine Hand bebte.
„Deshalb laufen hier so viele Menschen mit versteinerten Gesichtern herum und zeigen keinerlei Emotionen.”
Mouad konnte nur noch schemenhaft erkennen, wie Ahmad zustimmend nickte.
„Ja, so ist es - leider.”
Eine seltsame Erwartung lag in der Luft. Mouad schien auf etwas zu warten, während Ahmad überlegte, was sein Freund denn nun hören wollte. Schließlich fasste er einen Entschluss:
„Und ich denke, dass wir jetzt vielleicht auch über das andere Thema reden sollten, was dich und mich sehr persönlich betrifft. Du kannst deine Gefühle mir gegenüber nicht länger verbergen. Als ich dich nämlich das erste Mal sah, hast du so interessiert hinter mir her geguckt, dass das schon sehr auffällig war. Wenn du mal einen Moment die von deinem Vater mit dir eingeübte Tarnvorrichtung ausschaltest, dann hast du mich auch immer mal wieder danach sehr fasziniert angeschaut. Habe ich recht?”
Mouad war überwältigt. Zugleich auch verblüfft von der Offenheit, mit der Ahmad das Thema anging, über die geradezu unglaubliche Fähigkeit, sich in ihn hineinzudenken und über das Vertrauen, dass er gegenüber ihm zeigte. Er merkte, wie etwas Feuchtes über seine Wangen hinablief - unterdrückte jedoch jedes Geräusch.
Ahmad konnte gerade noch in der Dunkelheit erahnen, dass Mouad mit seinen Emotionen kämpfte und fühlte gleichzeitig, wie dieser seinen Körper kaum noch kontrollieren konnte.
„Ich glaube ich weiß, worüber du gerade nachdenkst und was dir vermutlich schon seit geraumer Zeit schlaflose Nächte bereitet”, flüsterte Ahmad...
„Mouad, wir beide sollten uns nicht länger etwas vormachen - indem du beispielsweise deine Gefühle gegenüber mir hinter einer aufgesetzten Maskerade verbirgst. Ich sage es dir deshalb jetzt direkt - ohne jede Umschweife: Ich bin völlig in dich verliebt. Und ich müsste mich schon sehr täuschen, nein, ich bin mir inzwischen vollkommen sicher - du bist es auch in mich.”
Nach einer Weile völliger Stille, die Mouad wie eine kleine Ewigkeit vorkam, so überwältigt war er, fragte Ahmad leise:
„Habe ich mit meinen Ausführungen vielleicht etwa ins Schwarze getroffen?”
„Ja, das hast du. Aber ich kann mit der Situation einfach nicht umgehen - ich habe sogar das Gefühl, wie unter Schock zu stehen!”
Sie schwiegen. Ahmad hatte keinerlei Erfahrungen damit, was er jetzt tun sollte. So eine Situation war in all den Jahren seiner Ausbildung mit keinem Wort erwähnt worden. Das einzige, was immer wieder mit Nachdruck betont worden war, war die Aussage: ,Sehen Sie zu, dass niemals eine vertraute Atmosphäre im Rahmen des Einsatzes mit den Menschen entsteht. Denn dies vernebelt den scharfen Blick auf das Wesentliche.’
Und auch er selbst hätte sich nie im Traum vorstellen können, bei solch einer Mission jemals in solch eine Lage zu geraten. Schließlich reifte in Ahmad ein Entschluss, der mit Sicherheit nicht von der reinen Logik geleitet wurde. Seine Schwester schien ihn besser zu kennen als er sich selbst, denn er hörte sich sagen:
„Wenn du willst, komme ich zu dir ’rüber - ich würde dich jetzt so gerne in den Arm nehmen und deine Nähe spüren. Aber wenn du noch nicht reif bist, um von einem anderen Mann umarmt zu werden, dann bleibe ich da, wo ich bin. Ich will dich nicht überfahren.”
Wieder Schweigen. Nur das stoßweise, fast unhörbare schwere Atmen Mouads drang zu Ahmad herüber. Schließlich schalt sich Ahmad innerlich einen Hasenfuß, kroch näher auf Mouad zu und streichelte ihm dann zärtlich durch seine Haare.
„Wärme mich, bitte”, kam es ganz leise von seinem Libanesen zurück.
Ahmad kuschelte sich an Mouad und schlang seinen linken Arm um dessen Hüfte.
Er küsste Mouad. Ahmad spürte die Unruhe, ja sogar die Nervosität seines Freundes. Aber zugleich fühlte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig glücklich.
„Ich will dir noch etwas anvertrauen. Dann wirst du verstehen, warum ich Menschen gegenüber so zurückhaltend bin”, begann Mouad.
Ahmad spürte, wie Mouad sich sehr zusammennehmen musste, um fortzufahren:
„Ich bin mehrmals mit dem Tode bedroht worden, als ich für mehr Toleranz gegenüber Frauen und deren Rechte warb. Einen Jungen, der mit absoluter Sicherheit auch schwul war, hatte ich damals öffentlich verteidigt. Ich bin nur wenige Tage nach dieser Parteinahme mit einem Messer angegriffen worden. Der Durchstich des rechten Lungenflügels und die inneren Verletzungen waren lebensbedrohlich. Erst nach vier Monaten war ich so weit wieder hergestellt, dass ich das Abitur beenden konnte. Bis heute kann ich größere körperliche Anstrengungen nicht lange durchhalten. Die Ärzte sagten damals, dies wird sich auch bis zum Lebensende nicht verbessern. Daher habe ich Angst, erneut an jemanden zu geraten, der mich abartig findet, als nicht lebenswert abstempelt und mich tötet.”
Während er Ahmad weitere Details seiner Schulzeit offenbarte, war seine innere Anspannung fast mit den Händen zu greifen, da die Erinnerungen an diese manchmal sogar lebensbedrohlichen Situationen ihn wieder übermannten.
„Beruhige dich doch. So etwas wird mit absoluter Sicherheit nie wieder vorkommen”, versuchte Ahmad ihm liebevoll zu versprechen, völlig erschüttert über das Grauen, mit dem Mouad als Schüler offensichtlich konfrontiert worden war.
Ahmad war über diesen Bericht so aufgewühlt, ja sogar empört - Mouad erkannte es an dem Klang seiner Stimme: „Ich werde dich jedenfalls niemals wie ein Stück unwertes Leben behandeln.”
Sie blickten nach draußen. Durch das schräge Dachfenster konnten sie einige wenige Sterne erkennen, die es schafften, den Lichtsmog zu durchdringen. Langsam verblassten sie - eine Schicht Cirrostratusbewölkung überzog allmählich den Himmel. Die ersten Ausläufer eines Tiefs im östlichen Mittelmeerraum machten sich bemerkbar.
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