„Ich glaube nicht, dass das so einfach sein wird”, zischte Ahmad. „Die schiitische Terrorgruppe Hisbollah hat da gewiss auch noch ein Wörtchen mitzureden.” Der französische Salafist probierte, Ahmad ins Gesicht zu spucken. Aber durch eine erneute Verhärtung des Würgegriffes erhielt er keine Gelegenheit dazu.
Ahmad durchsuchte seinen Gegner. Aber außer einigen Libanesischen Pfund schien dieser nichts weiter bei sich zu haben.
,Nur ein Killer, der fürs Gröbste eingesetzt wird’, dachte er. ,Aus dem ist nicht viel herauszuholen, denn er ist keiner der Führungsoffiziere, die diese Gruppen kommandieren. Aber selbst die wissen nur das Nötigste von der ganzen Operation. Ihre Aufträge erhalten sie über Mobilfunk - wo sie eingesetzt werden, wen sie liquidieren müssen.’
Er drückte noch einmal kräftig auf die berührungsempfindliche Stelle im Nackenbereich seines Gegners. Der Schmerzschub würde den Attentäter einige Minuten außer Gefecht setzen. Zeit genug, damit er, Ahmad, hier verschwinden konnte, bevor ihn die anderen drei der Gruppe finden würden.
Er sprang auf und schlug sich in den dichten Pflanzenbewuchs entlang des Weges. Offenbar keine Sekunde zu spät, denn schräg hinter ihm ertönte ein Ruf auf Arabisch, der in etwa mit ,ich habe ihn gefunden’ übersetzt werden konnte.
Im Hörsaal war die Hölle los. Alles schrie durcheinander. Es herrschte totales Chaos. Studenten trampelten sich fast tot bei dem Versuch, jeweils als erster den Raum verlassen zu können. Professoren rannten panikartig denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Nur der Rektor und Mouads Vater versuchten über das Mikrophon, die Studenten zu besonnenem Verhalten zu bewegen.
Es gelang ihnen zunächst nicht. Nach wenigen Augenblicken gaben sie sogar für’s Erste hilflos auf. Der Rektor verließ ebenfalls den Saal. Mouads Vater unternahm jedoch noch einen letzten Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen und brüllte aus Leibeskräften in das Auditorium - was sich wie ein Donnergrollen anhörte:
„Es ist nichts passiert. Der Rektor ist unverletzt. Ich erwarte daher, dass Sie geordnet den Saal räumen. Verlassen Sie zügig das Gebäude und warten Sie dann draußen auf die Polizei.”
Dies wirkte endlich.
Der Professor und Mouad blieben allein zurück.
„Wer war denn derjenige, der die Messerattacke abgewehrt hat?”, begehrte sein Vater zu wissen. „Du kennst ihn! Ich habe dich nämlich dabei beobachtet, wie ihr, wenn auch leise, bei der Eröffnungszeremonie miteinander getuschelt habt.”
„Das ist ein neuer Kommilitone von mir. Ahmad Johar heißt er. Ich habe die beiden vergangenen Nächte bei ihm verbracht.”
„Den musst du mal mit nach Hause bringen und uns vorstellen. So einen Kämpfer habe ich ja noch nie erlebt. Seine Reaktionsfähigkeit war wirklich unglaublich gut. Ich hoffe, dass er auch mindestens ebenso brillante Fähigkeiten im Kopfe hat.”
„Er macht bis jetzt eine gute Figur, ist sehr aufgeschlossen gegenüber allen Dingen und vielseitig interessiert. Ich mag ihn.”
„Und gut aussehen tut er auch noch.”
Sein Vater sah ihm durchdringend in die Augen.
Mouad senkte den Blick.
„Ahmad und ich hatten eigentlich geplant, uns bei schönem Wetter unten am Strand zu treffen. Ich möchte dort auf ihn warten. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.”
„Mir ist nicht sehr wohl bei diesem Vorhaben. Vielleicht wird dein Freund ja von den Attentätern verfolgt und ihm aufgelauert. Denn so ein Mordbube agiert niemals allein. Es handelte sich nämlich bei den Angreifern möglicherweise um Pasdarani.”
Der Professor dachte einen Moment nach. „Seine Aussprache deutet jedoch mehr auf einen Terroristen aus Europa hin, der für das Kalifat kämpft, worauf ich dich vor einigen Monaten bereits hingewiesen habe. Diese Tatsache war unschwer an seinem Dialekt zu erkennen. Besser wäre es daher, wenn du mit mir nach Hause zurückkehren würdest.”
„Ich kann ihn trotz deiner Einwände nicht allein lassen. Ahmad ist ein guter Mensch.”
„Na gut, meinetwegen. Aber versprich mir, dich bei uns heute Abend zu melden, damit wir wissen, wo du dich aufhältst.”
„Auf jeden Fall.”
„Na, dann such ihn mal und bringe ihn dann bitte auch bei nächster Gelegenheit mit zu uns nach Haus.”
,Ich habe doch noch gar nichts erzählt, dass ich mich in Ahmad verliebt habe’, dachte Mouad. ,Aber mein Vater ahnt bestimmt schon etwas.’
Mouad wandte sich um. Der Professor sah ihm grübelnd nach.
,Dann hat meine Frau Fatima also doch recht gehabt mit ihrer Vermutung. Wir müssen mit Mouad dringend über diese Angelegenheit reden.’
Kopfschüttelnd wandte er sich ab und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Mouad nachdenklich die Treppenstufen im Hörsaal emporstieg.
Mouad bahnte sich einen Weg durch die heftig diskutierenden Studenten. Von den Sicherheitskräften war immer noch nichts zu sehen. Er schlug den Weg Richtung Uferpromenade ein. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
Hoffentlich war Ahmad nichts zugestoßen.
Auch Ahmad machte sich auf den Weg zum Strand auf der dem Meer zugewandten Seite des Corniche, wo er sich mit Mouad treffen wollte, wenn sein Vater dies nicht ablehnte. Deshalb war es unsicher, ob sein Freund überhaupt kommen würde.
„Die Terroristen des Islamischen Staates sind also schon dabei, die Führungskräfte und die Elite dieses Landes zu beseitigen. Auf der anderen Seite steht doch gewiss Iran mit ihrem Ziehkind, der Hisbollah, angeführt von ihrem gnadenlos - fanatischen Führer Nasrallah, ”, murmelte er fast unhörbar vor sich hin.
,Wenn sie damit Erfolg haben sollten’, und er sah keinen Grund, wodurch dieser Umsturz verhindert werden könnte, ,ist dieser Staat rasch enthauptet und dem Untergang geweiht. Insbesondere dann, wenn - wie schon so oft - die beiden mächtigsten rivalisierenden Religionsgruppen Hisbollah und Islamischer Staat gegeneinander zu Felde ziehen - aber wer weiß, vielleicht...’, führte er diesen Gedankengang unvollständig zu Ende.
Niemand war zu sehen. Die Landschaft lag so friedlich zu seinen Füßen und war von der aus den Wolken hervorbrechenden Sonne in ein weiches, freundliches Licht getaucht, dass man glauben konnte, hier hätte sich überhaupt nichts Dramatisches ereignet. Ahmad blickte in eine scheinbar vollkommene Idylle. Aber er nahm die schon fast surreal wirkende Stimmung nicht wahr und ging weiter, während er sich sein Hirn zermarterte, was jetzt als Nächstes zu tun wäre.
Mouad trat vorsichtig ins Freie. Nervös schaute er sich nach allen Richtungen um, ob nicht auf ihn ebenfalls irgendjemand lauern würde. Denn Ahmad hatte ja nun einmal aktiv einen Mordanschlag verhindert, was bei den Attentätern bestimmt keine große Euphorie ausgelöst haben dürfte.
Zwei Gefühle fochten in ihm einen verzweifelten Kampf, der ihn in seiner Fortbewegung und Entscheidungsgewalt lähmte:
Die Sorge um Leben und Gesundheit Ahmads und die Angst um seine eigene Existenz.
,Und obendrein’, gesellte sich noch eine weitere, innere Partei hinzu, ,besteht ja noch die Möglichkeit, dass wir beide, während wir uns im Audimax unterhielten, von irgend einem Mitverschwörer beobachtet und belauscht worden sind.’
Plötzlich blieb er abrupt stehen - er war wie gelähmt. Schwer atmend gelang es ihm gerade noch, sich an dem Stamm eines kleinen Baumes festzuhalten. Denn mit einem Mal holten ihn, wie ein Realität gewordener Flashback, die unerträglichen Höllenqualen, die er in seiner Schulzeit erdulden musste, wieder ein: Die verzerrte, höhnische Fratze des religiös indoktrinierten Mitschülers, der ihm ein Messer in die rechte Brustseite gerammt hatte; das Entsetzen, als er das Blut in Strömen aus der Wunde herausschießen sah; das Pfeifen und Rasseln, als Luft mit Blut vermischt aus dem kollabierten Lungenflügel aus Mund und Nase heraustrat; die Todesangst hervorrufende Atemnot und sein verzweifeltes Ringen nach Sauerstoff.
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