„Du bist immer für Überraschungen gut”, kommentierte seine Schwester.
„Pschscht. Mouad kommt zurück. Ich lasse später wieder von mir hören.”
Es klopfte an der Tür und ein nach Limonen duftender Mouad, in einen geblümten, spießig wirkenden Schlafanzug gekleidet, schlüpfte zurück in die Wohnung. Er zog eine Tropfenspur hinter sich her.
„Weißt du, was ein Handtuch ist?”, fragte Ahmad lachend.
„Ähmm..., ja, aber ich hatte es eilig, wieder zurückzukommen. Ich bin nämlich müde. Morgen geht schließlich das Studium weiter und ich will ausgeschlafen sein.”
„Na gut, dann lass’ dich noch ein wenig an der Luft trocknen, bevor du dich hinlegst. Ich mache mich dann auch mal eben sauber.”
Ahmad nahm sich eine olivfarbene Militärhose nebst farblich passendem Hemd aus dem Schrank, schnappte sich noch Unterwäsche und verschwand mit frischem Handtuch und Badeschlappen in Richtung Dusche. Mouad schaute sich derweil in der Wohnung um. Ihn wunderte, dass offensichtlich sein Freund keinerlei Bücher sein Eigen nannte, keine Blue Ray Discs oder DVD’s zu erkennen waren und er auch keinen Fernseher besaß.
,Hat er denn keine Interessen? Wie erhält er seine aktuellen Informationen?’, dachte er verwirrt.
Alles sehr merkwürdig, denn viel hatte er nicht von sich erzählt. Auch seine Kindheitsgeschichte wirkte nicht sonderlich glaubwürdig. Sein eigener Vater hatte zwar intensiv mit ihm, als er Jugendlicher war, den Libanon bereist. Aber von einem Heim in Tyros hatte er noch nie etwas gehört.
,Und dann dieses offensichtliche Selbstgespräch, dass ich zum Teil soeben mitbekommen habe’, dachte Mouad.
Zwei innere Stimmen traten in ihm eine heftige Debatte los:
,Das ist ja so etwas von merkwürdig’, meinte die nachdenkliche Stimme.
,Wem erzählt er solche hochbrisanten Details? Und wer überwacht ihn?’, fragte die andere bohrend.
,Irgendjemand scheint sich ja ziemliche Sorgen um ihn zu machen.’
,Hat er mit diesem Irgendjemand schon ein Verhältnis?’, wurde misstrauisch nachgefragt.
Die nachdenkliche Stimme verstummte. Es wurde weiter hinterfragt:
,Trifft er sich mit diesem Unbekannten bei Beiruts berühmtester englischsprachiger Tageszeitung?’
,Und was meinte er mit dem Satz: „...enormen kulturellen Rückstand gegenüber unserem Zivilisationsniveau?” ’
,So denken doch nur gewisse Kreise im Westen über uns angeblich so unzivilisierte Araber.’
Die nachdenkliche Fraktion meldete sich abermals:
,Aber Ahmad macht nicht den Eindruck, als würde er Moslems verachten oder sich über Libanesen lustig machen.’
,Und wenn er mich hassen würde?’, kam es scharf zurück.
,Dann hätte er bestimmt nicht dein Leben gerettet.’
Die Stimmen verstummten.
,Nun ja, man wird sehen, was mich in der Zukunft erwartet’, dachte er.
Er legte sich auf das hart gepolsterte Bett und starrte an die Decke.
,Ob ich meine Gefühle gegenüber ihm schon zeigen kann? Auch wenn an seinen Erzählungen so manches nicht stimmig scheint, so ist er doch im Innersten offenbar eine herzensgute, treue Seele, obwohl...’
Ahmad kam zurück, in seine Militäruniform gekleidet. Er ging zum Kleiderschrank und holte sich einen Feldrucksack heraus, legte ihn auf den Boden und rollte sich in ihn ein.
„Schlaf gut, Mouad. Bis morgen früh.”
„Gute Nacht.”
Ahmad konnte nicht einschlafen. Die Neuigkeiten, die ihm seine Schwester mitgeteilt hatte, deckten sich mit den Informationen, die er über das Internet und über weitere geheime Kommunikationskanäle der Föderation erhalten hatte. Es herrschte im politischen und akademischen Mainstream wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Menschheit höchstwahrscheinlich bereits in naher Zukunft auf eine globale kriegerische Auseinandersetzung zusteuern würde. Sogar die manchmal sehr kontrovers agierenden Think-Tanks der führenden föderalen Universitäten kamen in dieser Frage alle zu dem gleichen beunruhigenden Resultat.
Aber als noch verstörender empfand Ahmad die Nachricht, dass die australische Regierung selbst nicht mehr an ein Fortbestehen der Menschheit zu glauben schien. Nach Aussagen von Kundschaftern waren die besten Wissenschaftler Terras eingeladen worden, um eine Raumsonde zu bauen, die alles Wissen, alle zivilisatorischen Errungenschaften, über die die Menschheit verfügte, für sehr lange Zeit konservieren sollte: Als letzte Erinnerung an eine Zivilisation, die gerade im Begriff war, sich selbst zu zerstören. Um dann möglicherweise als technologische Keimzelle einer fernen, hoffentlich verantwortlicher agierenden Zivilisation zu dienen.
Und dann dachte Ahmad an die Unsummen Geld, die in der Vergangenheit auf diesem Planeten vergeudet wurden.
,Wenn die Menschen doch beispielsweise bloß begreifen würden, dass das Ziel einer gesicherten Energieversorgung finanziell und technisch auch auf der Erde kein unüberwindliches Problem darstellt und man in Folge dessen alle wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten mittel- bis langfristig weltweit in den Griff bekäme’, dachte er.
Mouad lag ebenfalls wach und kämpfte immer noch mit sich, ob er Ahmad seine Gefühle ihm gegenüber eingestehen sollte. Sein Zögern vor dem inneren Entscheidungstribunal rechtfertigte er durch die in seinen Augen berechtigte Sorge, dass seine Homosexualität öffentlich werden und er dann möglicherweise erneut Opfer von Attacken intoleranter oder fanatisch-religiöser Studenten sein könnte. Er trug nämlich schwer an seinen sehr negativen Erfahrungen zu Toleranz und Mitmenschlichkeit während seiner Jugend. Schon die Themen vorehelicher Sex sowie die Rollenverteilung von Mann und Frau in der Gesellschaft hatten damals viele archaische Ansichten bei seinen Mitmenschen zu Tage gefördert. So zum Beispiel, dass Frauen beim Akt keine Lust verspüren würden, grundsätzlich keine Ausbildung bräuchten und sich stets dem Willen des Mannes unterzuordnen hätten.
Er begann zu grübeln: Die Reaktion von seinem Vater auf die Tatsache, dass er diese Nacht bei einem Kommilitonen verbringen würde, war nicht so ablehnend, wie er gedacht hatte. Das hatte ihn am meisten im Verlauf des zurückliegenden Telefongesprächs erstaunt. Dieser Gedanke beruhigte ihn jedoch zugleich ungemein.
Ihm fielen die Augen zu.
Plötzlich umgab ihn sengend weißes Licht, das sich in gelb und dann in ein schmutzig Rot veränderte. Schreie von sterbenden Menschen umgaben ihn. Eine Glut kroch durch seinen Körper. Er verspürte irrsinnige Schmerzen, viel schlimmer als die während der Messerattacke in seiner Schulzeit. Er begann zu wimmern, zu stöhnen, versuchte krampfhaft, wegzukommen - aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Quälend langsam fraß sich das Feuer weiter durch seinen Leib, es schien jede einzelne Faser seines Körpers lichterloh in Brand zu setzen. Er schrie aus Leibeskräften, brüllte, so laut er konnte. Er versuchte, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren, um dem Inferno zu entrinnen...
Es gelang ihm nicht. Todesangst überwältigte ihn.
Ein furchtbarer Schlag durchfuhr ihn plötzlich, er wurde hin und her gerüttelt...
...und blickte in Ahmads schemenhaft beleuchtetes Gesicht. Nur eine Nachttischlampe spendete trübes Licht.
„Mouad”, flüsterte dieser leise, „lass den Albtraum zurück. Ich bin doch bei dir.”
Schweißgebadet lag er da - völlig erschöpft. Angstkälte kroch in ihm hoch.
„Was war denn das?”, hauchte Mouad mit scheinbar letzter Kraft.
„Dein Unterbewusstsein versucht, mit der grässlichen Stresssituation, die du gestern durchgemacht hast, fertig zu werden. Das ist häufig mit schauerlichen Fantasierereien in Träumen der Betroffenen verbunden.”
„Ich kann aber nicht weiter schlafen”, flehte Mouad mit bebender Stimme. „Ich möchte die Situation nicht noch einmal durchmachen müssen!”
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