Auch Mouad und Ahmad wurden von einem Soldaten, der zu ihnen herüber wechselte, barsch nach dem Grund ihres Aufenthalts befragt. Der Mann in Uniform akzeptierte jedoch völlig unerwartet das Empfehlungsschreiben des Dozenten, das die beiden Studenten ihm präsentierten.
„Dr. Schulte, Journalismusdozent - sehr interessant. Ein deutscher Dozent?”
Mouad und Ahmad nickten.
„Also nicht von hier. Daher: Interviews gibt’s nicht. Und wenn der Premier erscheint, bleibt die Kamera aus. Kapiert?”
,Sieht ja so aus, als ob die Herrschaften da drüben sehr nervös sind’, dachte Ahmad.
Mouad schien die Situation ebenfalls argwöhnisch zu beobachten. Ziemlich unruhig und planlos fingerte er an den Bedienungstasten der Kamera herum, um den optimalen Weißpunkt für Aufnahmen festzulegen. Er konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Ein nicht näher zu erklärendes Gefühl sagte ihm, dass hier irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht eine Vorahnung als Folge der Erziehung der Eltern, die ihm immer nahegelegt hatten, sich nur auf sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten zu verlassen, niemandem zu vertrauen und überdies immer nach brenzlichen Situationen Ausschau zu halten - also einen sechsten Sinn für das Unerwartete und die Gefahr zu entwickeln.
Ahmad hingegen betrachtete die Lage scheinbar gelassen. Er behielt jedoch Mouad, die Soldaten und die gegenüberliegende Straßenseite genau im Auge. Und auch er war innerlich auf das Höchste alarmiert.
,So ein politisches Treffen ist für Anschläge ein lohnendes Ziel!’, dachte er.
Er wandte sich Mouad zu:
„Wenn du willst, kann ich ja mal die Kamera nehmen. Bist du vielleicht mit dieser Situation völlig überfordert?”
Widerstrebend übergab Mouad ihm den Apparat. Froh darüber, dass er sich nur auf die Wagenkolonne der Sicherheitsbeamten und politischen Vertreter konzentrieren musste.
Nach einer ihm endlos erscheinenden Wartezeit rasten plötzlich schwarze, gepanzerte Limousinen heran. Getönte Scheiben machten es unmöglich, von außen die Identität der Insassen festzustellen. Die Fahrzeuge hielten mit quietschenden Reifen vor der enorm hohen, verschnörkelten Eingangstür, zu der ein kurzer roter Teppich führte. Politiker sprangen gehetzt heraus - Sicherheitsbeamte in schwarzen Anzügen mit Maschinenpistolen im Anschlag sicherten die Umgebung.
Ahmad filmte die ersten Minister. Schließlich den Premier, der sich aus der hinteren rechten Tür eines gepanzerten, dunkelblauen Mercedes hinaus schwang. Dabei achtete er mit dem anderen Auge auf die Umgebung. Mouad trat nervös von einem Bein auf das andere und fühlte sich dermaßen unwohl, dass er am liebsten sofort die Flucht ergriffen hätte.
Das Quietschen von Reifen ließ Mouad mit einer, für einen untrainierten Menschen erstaunlichen Reaktionsschnellheit herumwirbeln. Beinahe gleichzeitig versuchte er, noch in die Richtung der Häuserecke zu fliehen, die sie vor wenigen Minuten noch umrundet hatten, um impulsiv Deckung zu suchen. Aber er war trotzdem nicht schnell genug.
Ahmad warf sich auf ihn. Ein orange-gelbes Licht flammte auf. Mouad stürzte unter ihm nieder - Wärme umströmte ihn. Die Druckwelle war seltsam gedämpft - die volle Wucht der Bombenexplosion schien ihn nicht zu treffen.
Gleichzeitig Geräusche von zerreißendem, menschlichen Gewebe.
Passanten wurden neben ihm zerfetzt, Fassadenteile und Fenster aus Gebäuden herausgerissen: Ein todbringender Hagel flog auf die Menschen herab. Gellende Todesschreie. Mouad schlug hart auf dem Boden auf. Er wurde unter dem menschlichen Schutzschild begraben - glaubte, zu ersticken.
All dies geschah in weniger als einer Sekunde.
Aber nur wenige Augenblicke später riss ihn Ahmad, der sich rasend schnell aufgerappelt hatte, bereits wieder vom Erdboden hoch, schwang ihn auf seinen Rücken, schlang Mouads Arme um seinen Hals und rannte los - um die Hausecke herum, die Straße entlang, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
In Ahmads Kopf hämmerte der Befehl, der ihm zu Beginn der Mission immer und immer wieder eingebläut wurde: ,Kümmer’ dich nicht um mögliche Verletzte oder Tote bei einem Attentat! Denn fast immer trachten die Terroristen danach, auch noch die Rettungskräfte zu vernichten!’
Totenstille herrschte hinter ihnen - ab und zu vom Schreien der Verletzten unterbrochen, während sie an entsetzt dreinschauenden Passanten vorbei flüchteten, die aus Neugierde oder Hilfsbereitschaft in Richtung des Bombenanschlags liefen.
Ahmad bog endlich in eine Seitenstraße ab. Erschöpft ließ er Mouad zu Boden gleiten. Er atmete schwer.
„Los, vorwärts”, drängte Ahmad.
Mouad starrte ihn mit vor Grauen geweiteten Augen an, gehorchte ihm aber und stellte ungläubig fest, dass sowohl er als auch Ahmad offensichtlich nicht die geringste Schramme davongetragen hatten - mit Ausnahme von einigen leichten Prellungen.
Sie hasteten weiter.
Endlich erreichten sie eine belebte Einkaufsstraße. Hier erinnerte nichts an die dramatischen Erlebnisse, die nur wenige Augenblicke zurücklagen.
Sie ließen sich auf eine Bank fallen, die unter einem der neu gepflanzten Bäume, die die Luftqualität im Zentrum Beiruts verbessern sollten, aufgestellt war. Dazwischen normale Geschäftigkeit, friedlicher Alltag.
Mouad starrte Ahmad entsetzt, verwirrt aber auch zugleich überwältigt an. Schließlich verbarg er das Gesicht zwischen den Armen, die er um seinen Kopf geschlungen hatte.
Er stammelte in abgehackten, kaum verständlichen Sätzen. Der Schock des gerade Durchgemachten - er ließ sich kaum bezwingen. Mouad keuchte.
„Du... du hast mir das Leben gerettet. Warum... nur? Du kennst mich doch gar nicht so richtig. Ich habe doch bewusst zu dir Abstand gehalten. Denn ich darf meine Gefühle gegenüber dir niemandem zeigen. Ich habe Angst vor den Reaktionen anderer Libanesen. Wie soll ich überdies meinem Vater das Verhalten erklären, das du gegenüber mir gezeigt hast? Und, wieso leben wir überhaupt noch? Du hast doch, wie die anderen Umstehenden am Anschlagsort auch, die volle Wucht der Explosion abbekommen.”
Ahmad sah ihn nachdenklich an. Er schien zu überlegen, was er ihm auf diese Fragenkette antworten sollte und was als nächstes zu tun sei.
„Vieles an eurem Verhalten untereinander ist mir schlichtweg unbegreiflich”, begann er ausweichend. „Mitmenschlichkeit scheint in eurer Kultur keinen besonders hohen Stellenwert zu haben. Aber diese Überlegungen sollten wir an dieser Stelle vielleicht besser nicht weiter vertiefen. Ich erachte es angesichts der gerade von uns durchgestandenen Ereignisse für sinnvoller, wenn du mit zu mir in meine Wohnung kommst. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass du heute noch irgendwo allein hingehst.”
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Ein Lächeln huschte über Ahmads Gesicht. Er schien von den zurückliegenden Ereignissen nicht sonderlich beeindruckt zu sein.
„Auch wenn du dich immer als cooler Supermann gibst, der alle Probleme bewältigen kann. Ich bin mir absolut sicher, dass du zumindest heute jemanden brauchst, der mit dir reden kann”, sagte er in ruhigem Ton.
Mouad sah ihn mit müden Augen an. Er wirkte unschlüssig.
„Ich weiß nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Auseinandersetzungen mit meiner Familie durchzustehen. Mein Vater wird vermutlich extrem ablehnend reagieren, wenn er erfahren sollte, dass ich bei dir übernachten soll. Er hat mir vorgestern noch haarklein auseinandergelegt, warum er es überhaupt nicht mag, dass ich in diesen chaotischen Zeiten mit jemandem engeren, vertrauensvollen Kontakt aufnehme.”
Plötzlich war der Schlag der Druckwelle einer weiteren Explosion aus der Richtung zu spüren und zu hören, aus der sie gekommen waren.
„Los jetzt! Verschwinden wir endlich”, fuhr Ahmad Mouad an. „Unsere Probleme können wir auch an anderer Stelle besprechen. Denn am Serail sind mit Sicherheit nach dieser zweiten Detonation jetzt weitere Opfer zu beklagen.”
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