1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Also gut. Gleich nach dem Ausritt- ach nein, da muss ich arbeiten. Und morgen kommt meine Familie.“ Sobek grinste. Er dachte wohl, ich würde mich nicht trauen. Trotzig sagte ich: „Egal, dann komme ich nach der Arbeit. Um elf.“ Er zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Abgemacht“, sagte er.
Ich wollte plötzlich möglichst schnell von diesem Waldweg fort, zumal die Pferde die ganze Zeit mit den Köpfen geschlagen und uns die Zügel aus den Händen gerissen hatten. Ich nickte Freya zu, die gleich verstand und Lengo wieder auf den Weg lenkte. Er sprang sofort im Galopp an und Stine folgte ihm, als hätten sie sich verabredet. Erst nach fast einem Kilometer, den wir durch die von hereinhängenden Zweigen verengten Wege galoppiert waren, fiel mir auf, dass Stine die ganze Zeit im Rechtsgalopp gelaufen war.
Ich stieß ich einen Jubelschrei aus, der Freya und Lengo auf der Stelle zum Stehen brachte, sodass der Sand um Lengos Hufe spritzte. Freya sah sich zu mir um: „Was ist denn?“
„Sie ist rechts galoppiert!“, quietschte ich vor Glück.
„Du hast Nerven,“ murmelte Freya.
Weil der Tangstedter Forst groß und der Weg zum Stall weit war, kam ich fast zu spät zur Sternwarte, wo die Vorstellung zum zweiten Teil der „Macht der Sterne“ um acht Uhr beginnen sollte. Anders als am Nachmittag reichten mir viele junge Paare gleich zwei Karten zum Abreißen, weil sie einander die Hände, Arme oder Taille hielten und ich war ganz froh, dass ich im Saal nicht die einzige sein würde, die die Show nicht wirklich interessierte. Dass es dann ganz anders kam, lag am Schädel aus Ahrensburg, welches für jemanden, der aus dem Fund dieselben Schlussfolgerungen zog wie die Hamburger Astronomen, meinem beschaulichen Tangstedt beunruhigend nah war. Und am Namen des ersten Archäologen, der die Ahrensburger Steinzeitkultur entdeckt hatte: Ein Herr Rost. Plötzlich beunruhigte mich die Tatsache, dass Robert nach der Schule verschwunden war, obwohl mich dieser langweilige Typ eigentlich nichts anging. Vielleicht hatte seine schutzbedürftige Art meinen mütterlichen Instinkt geweckt.
Der besagte Herr hatte in den Dreißiger Jahren entdeckt, dass die Steinzeitmenschen im Ahrensburger Tunneltal den eiszeitlichen Rentieren auf ihren Wanderungen aufgelauert und dort Lager genommen, gegessen und gefeiert hatten. Das war schlappe dreizehntausend Jahre her und nichts Besonderes, weil es auch in Hamburg und an anderen Orten in der Nähe Spuren von Jägerkulturen gegeben hatte, sogar schon vor fünfzehntausend Jahren.
Nun zeigte aber der Fund dieses merkwürdigen Schädels, dass die vermeintlichen Jäger dieselben Sternzeichen beschrieben hatten, die wir als Tierkreiszeichen kennen, dass sie ebenso wie die Sachsen in Nebra durch das Zeichnen von Linien auf den Sonnenauf- und Untergangspunkten berechnen konnten, wann Winter- und Sonnenwende sowie Tag- und Nacht- Gleiche waren, dass sie wussten, dass das Mondjahr kürzer ist und dass sie sogar Schalttage festgelegt hatten, um das Jahr ganz genau zu berechnen. Dieses Wissen fand sich auf bedenklich vielen antiken Stücken und an verdächtig vielen Orten der Welt aus allen Epochen wieder: Es steckte im Berliner Goldhut, im Sonnenwagen von Trondheim, in der riesigen Anlage von Angkor Wat in Kambodscha ebenso wie in den Pyramiden Ägyptens oder Südamerikas, in Goseck und in Stonehenge.
Das Merkwürdige daran: Die Ahrensburger waren Jäger. Ihnen konnten präzise Angaben über Aussaat- und Erntefeste und die Orientierung im All egal sein. Wozu hätten sie das Wissen über haargenaue Orts- und Zeitbestimmung gebraucht?
Der Sprecher der Schädelshow schloss mit der Bemerkung, im Internet kursierten unzählige falsche Theorien darüber, dass eine etwa elftausend Jahre vor Christus durch seefahrende Händler verbreitete Weltkultur das Wissen über die Sterne ebenso wie die Bauanleitungen für die Pyramiden und astronomisch ausgerichtete Großanlagen transportiert habe. Ich fand das jedoch gar nicht so abwegig, denn nur weil wir keine weiteren Kulturbeweise hatten, hieß das ja nicht, dass die frühen Menschen alle nach Wurzeln grabend darauf gewartet hatten, dass plötzlich jemand eine Hochkultur erfand. Aber selbst wenn es eine weltumspannende Wissensgesellschaft mit der Macht der Sterne gegeben hatte, blieb die Frage: Wozu diese astronomischen Berechnungen? Ich hatte das Gefühl, auf einem Boden zu leben, der voller alter Geheimnisse steckte.
Es war schon tief dunkel, als ich mit dem Rad Richtung Wald zu Sobek aufbrach. Direkt von der Verbindungsstraße nach Norderstedt ging links der Waldweg ab, der sich durch alte Kiefern wand und in einen Hohlweg aus knorrigen Eichen mündete, durch deren mächtige Zweige die kleinen Tannen und Birken der Schonungen zu beiden Seiten vom schwachen Mondlicht erleuchtet durchschimmerten. Am Ende führte der sandige Weg in einem Bogen wieder zurück. Auf der abgewandten Seite der Schlaufe begann das ehemalige Grundstück meiner Großeltern, einzäunt mit einem wackeligen Staketenzaun, der die Rehe aus dem Garten fernhalten sollte.
Selbst der Briefkasten war noch da, allerdings hing rechts daneben ein neuer, schwarz polierter Doppelbriefkasten mit zwei Klingeln, dessen oberer Einwurf „Black Art GmbH“ und dessen unterer „Hier wohnen Junit, Anhor und Sobek Schulze“ zeigte. Aus den Rhododendren hinter dem Zaun waren stattliche Büsche geworden, die im Dunkeln eine schwarze Wand bildeten und die Sicht auf das Haus verwehrten.
Ich klingelte bei Familie Schulze und ein Knacken kündigte an, dass sie eine Gegensprechanlage installiert hatten.
„Ich komme, Kora. Geh schon mal durch. Du weißt ja, wo du hin musst.“
Die Gartenpforte war offen. Früher führten von Buchsbaumhecken gesäumte Blumenbeete bis zum Haus, die jetzt von dunkel wuchernden Ranken erobert wurden. Meine Schuhe knirschten auf dem Kiesweg, als ich Schritt für Schritt in meine Kindheit eintauchte, mich nach beiden Seiten nach bekannten Dingen umsehend, in Gedanken versunken.
Sobek stand schon in der Tür und sah mir geduldig zu.
„Du bist mein erster Besuch.“ Er wirkte belustigt. „Herzlich willkommen.“
Ich wusste nicht, ob ich ihm die Hand geben sollte. Zum Glück drehte er sich gleich um und ging vor ins Haus.
Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie grundlegend ein Haus seinen Charakter verändern kann, wenn es neu gestrichen und möbliert wird. Es war innen nicht so dunkel, wie ich erwartet hatte, nicht einmal so dunkel wie früher. Tatsächlich war es eher kühl und elegant mit seinen neuen weißen Türen und Fenstern und den blauen Wänden. Sobek führte mich die weiß gestrichene Treppe hoch in sein Zimmer.
„Das war früher das Zimmer, in dem ich schlief, wenn ich bei Oma zu Besuch war.“ Neugierig trat ich durch die schmale Tür.
„Du wirst es sicher kaum wiedererkennen“, schmunzelte er, „ich habe ein paar Veränderungen vorgenommen.“
Das war stark untertrieben. Mein Zimmer war viel größer geworden, denn die Wand zum Nebenzimmer hatte man entfernt und nur einen Rand stehen lassen, der die beiden Räume wohnlich miteinander verbunden hätte, wenn Sobek bei der Dekoration Wert auf Wohnlichkeit gelegt hätte. Die Wände waren dunkelrot gestrichen, die Türen schwarz. Im ersten Zimmer hingen zahlreiche gerahmte und ungerahmte Bilder an den wenigen Stellen der Wände, die nicht von gut gefüllten Bücherregalen bedeckt waren. Anstelle von Möbeln wohnte Sobek in einem sorgfältig drapierten Ensemble aus leeren Weinkisten, auf denen er Kerzen in Flaschen und alten Gläsern aufgestellt hatte. Die Fenster waren von locker über die Gardinenstangen geworfenen schwarzen Seidenschals und schwarzen Netzen verhängt. Das hintere Zimmerchen dominierte ein schwarz bezogenes Riesenbett mit vielen schwarzen und smaragdgrünen Kissen. Rund um den Bereich, in dem er wohl allein lagerte, schichteten sich CDs und DVDs, Fernbedienungen, Bücher, Papier, Stifte und Notenblätter. Über seinem Bett hing eine ausgestopfte Eule an der Wand, genau über dem Kopfteil.
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