1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 „Und das findest du gemütlich?“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
„Gemütlichkeit ist eine bürgerliche Gewohnheitshaltung, träge und unreflektiert“, dozierte er tonlos.
„Und hier pflegst du zu reflektieren.“ Ich zeigte auf die zerwühlte Bettstätte.
„Es eignet sich natürlich auch für andere Dinge,“ sagte er, wohl wissend, dass ich jetzt rot werden würde, und genoss die rhetorische Pause, „zum Beispiel zum Musikhören.“ Er freute sich diebisch über meinen ertappten Gesichtsausdruck.
Um nicht zu blöd dazustehen, nahm ich den Brocken, den er mir hingeworfen hatte, setzte mich auf die Bettkante und musterte seine Tonträger.
„Was ist das für Musik?“ Ich wollte es nicht wirklich wissen, aber irgend etwas glaubte ich sagen zu müssen. Musik war für mich das wichtigste überhaupt, aber meine Stars waren Bach und Wagner. Die modernen Popbands kannte ich nicht einmal.
Wortlos legte er die CD ein und es erklang Chopin. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich ließ die perlenden Klänge auf mich wirken und merkte, dass sie sich mit der Einrichtung des Zimmers in einem harmonischen Einklang befanden, gar nicht mehr befremdlich, sondern melancholisch, friedlich, nur etwas traurig.
„Du liest Gedichte?“ Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“ lagen nicht auf jedem Nachttisch knapp volljähriger Jungen.
Er lachte: „Ich schreibe auch welche. Aber die würden dich wahrscheinlich langweilen. Nichts Großes, nur ein paar Empfindungen und Gedanken, in Worte gefasst. Aber mich berührt eher die Stimmung hinter den Worten, das ist schwer zu beschreiben.“
Es kam mir vor, als sähe ich Sobek zum ersten Mal. Tatsächlich hatte ich zuvor nur auf seine Aufmachung geachtet, nicht auf seine wachen grünen Augen und auf die feinen roten Strähnen in seinem verknoteten blonden Haar. Er hatte ebenso hohe Wangenknochen wie ich, die in seinem kantigen Gesicht jedoch viel prägnanter wirkten. Auch der kleine Kinnbart passte zu ihm, der das Grübchen im Kinn unterstrich. Obwohl ich meine Grübchen nicht mochte, fand ich, dass sie sein Gesicht sympathisch machten und ihm etwas Verschmitzes oder Schelmenhaftes verliehen.
Das Stück endete und Sobek holte eine andere CD hervor. „Dies ist ein Stück, das mir ebenso viel bedeutet: „Die Stille der Nacht.“
Ich konnte deutlich den Text des modernen Liedes verstehen, schön und klar, aber auch sanft und traurig von einer jungen Männerstimme vorgetragen. Der Text handelte von Trennung und Kälte, von Einsamkeit und versickernder Hoffnung und von Gedanken, die Wärme verbreiten.
Wieder merkte ich, dass mir etwas fehlte, das ich nie finden würde, als hätte ich nur ein halbes Herz.
„Ich sehe, dich berühren die Stücke, wie sie mich berührt haben.“ Sobek sah mich lange an und wartete verständnisvoll. Als ich mich wieder gefasst hatte, sagte er leise: „Dann solltest du auch dies noch hören“ und legte eine CD mit der Aufschrift „Goethes Erben“ ein. Das Lied, glasklar gesprochen, handelte vom lächelnden Tod und machte mich tieftraurig. Als es zu Ende war, saß ich einfach da und fühlte. Ich nahm nichts wahr, ich dachte nichts, ich tat nichts außer atmen und fühlen. Sobek saß daneben, den Blick auf den Boden gerichtet. Nach einer Zeit, die mir endlos schien, nahm er meine Hand.
„Wir sollten uns das Haus ein anderes Mal ansehen.“ Prüfend sah er mich an. „Entschuldige, ich habe dich deprimiert. Das war nicht meine Absicht. Ich wusste nicht, dass du empfindsam bist.“
„Es liegt nicht an der Musik. Es ist eher etwas, das sie - anregt. Die Texte passen ja nicht einmal zu mir.“
Mitfühlend sah er mich an. „Jeder hat seinen eigenen Schmerz.“
Das war zu viel. „Ich muss jetzt los. Es wird dunkel.“ Ich stand steif auf und wandte mich zum vorderen Zimmerteil um zu gehen. Sobek überholte mich, öffnete mir die Tür und ging vor zur Haustür.
„Kora, es tut mir Leid. Aber ich bin auch froh, dass du mich so kennen gelernt hast, wie ich bin. Falls du damit leben kannst, würde ich dich gern wiedersehen.“
Das konnte ich nicht versprechen, ich war zu aufgewühlt und mir gefiel dieser Kontrollverlust nicht.
„Leb wohl, Kora.“
„Tschüss, Sobek.“
Freitag, 25.6.2010
Am Freitag kam der Rest meiner kleinen Familie zum Geburtstagskaffee, denn wegen der Vorbereitungen auf die große Schädelpräsentation am Sonnabend war das Planetarium geschlossen und ich hatte Zeit. Zur Feier des Tages hatte ich mir einen Reeperbahnbesuch mit dem Besuch des Musicals „König der Löwen“ auf der anderen Elbseite gewünscht. Oma Liese blieb zu Hause, weil der Rollstuhl nicht auf die Barkasse gepasst hätte, die uns zum Theaterzelt übersetzte.
Vielleicht war ich in einer anderen Laune als sonst, vielleicht auch nur unruhig. Auf jeden Fall begriff ich erst jetzt die Handlung des Musicals und wurde stutzig: Scar, der böse Bruder des guten, gerechten Königs der Löwen, lockt seinen eigenen Bruder in einen Hinterhalt und tötet ihn. Simba, Sohn des ermordeten Königs, kehrt nach seinem Exil zurück und führt Scar in einer Art Gericht vor, dann tötet er ihn im anschließenden Kampf. Es ist schon merkwürdig, dass solche Mordgeschichten Familien begeistern.
Nach dem Stück bummelten wir über die Reeperbahn und gingen an der Elbe essen. Es war schon spät, als wir uns durch kleine kopfsteingepflasterte Gassen vorbei an parkenden Autos vor Tattoo- Studios und Nachtlokalen wieder zur Reeperbahn durchschlängelten. Kurz vor dem Spielbudenplatz versperrte uns jedoch eine Polizistin den Weg. Hinter ihr verlief rot- weißes Absperrband. Blaulicht aus Streifenwagen und Ambulanzen stach mir in die Augen. „Hier können Sie nicht weiter gehen. Bitte drehen Sie um und nehmen Sie die nächste Straße links. Sie kommen dann an der Tankstelle auf der anderen Seite des Platzes heraus.“
„Was ist denn geschehen?“, wollte Waltraud wissen.
In breitem Hamburgisch erklärte die Polizistin, wahrscheinlich hätten sich wieder einmal zwei Banden bekriegt. Sie zeigte auf einen zerknautschten roten Sportwagen und auf einen schwarzen Oldtimer von Mercedes, der mir nur zu bekannt vorkam. Im Scheinwerferlicht der Streifenwagen konnte ich die von Einschüssen übersäte linke Seite erkennen und mir schmolz der Magen. „Ist jemand gestorben?“, quetschte ich heraus.
Die Polizistin sah mich mitfühlend an. „Na ja, eigentlich darf ich das nicht sagen, aber ihr lest es morgen ohnehin in der Zeitung. Die beiden Männer im Lamborghini werden wohl nicht wieder aufwachen. Aber diese alte Limousine dort ist gepanzert wie eine Staatskarosse. Der Fahrer hat nicht einmal einen Kratzer abbekommen.“
Ich war froh, dass der Rest meiner Familie nur schnell nach Hause fahren wollte.
Sonnabend, 26.6.2010
Oma Liese wartete schon mit dem „Na, wie war's?“- Gesicht am Frühstückstisch.
Ich deckte uns auf und schob sie an den Tisch. Schweigend begannen wir zu essen. Sie war so klug, mich nicht anzusprechen und sah nur ab und zu kurz zu mir hoch, aber nicht so aufdringlich, dass mir unwohl geworden wäre. Liese Hardenberg hatte die wunderbare Eigenschaft, Zeit nicht nur zu haben, sondern auch sinnvoll einzusetzen. Sie konnte warten wie die Spinne im Netz, bis sich ihr Opfer von allein ergab.
Nach wenigen Minuten war ich so weit und griff an: „Na, wie war‘s?“
Oma Liese grinste und zwinkerte mir zu. „Waltraud hat wirklich für mich gesorgt, wie sie es schon angedroht hatte. Erst hat sie mir Frau Meier samt Mann auf den Hals geschickt, die stundenlang mit mir Karten spielen wollten,“ sie seufzte tief und verdrehte die Augen, „und dann hat sie beim Pflegedienst wohl das Rundum- Sorglos- Paket bestellt. Da kam so ein junger Mann, so ein Zivi, der erzählte mir erst von seinem Urlaub, dann wollte er mich füttern, wo ich doch nun wirklich nicht aussehe wie ein Pflegefall-“
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