Im Haus angekommen, war ich froh, endlich in mein Zimmer zu kommen und brachte Liese ins Wohnzimmer, wo sie noch fernsehen wollte.
Etwas musste ich ihr noch sagen, aber ich wusste nicht, wie. Sie sah mir das an der Nasenspitze an und wartete. „In dein altes Haus sind Leute eingezogen.“ Sie sagte nichts, sondern räumte das Geschirr für morgen früh auf den Tisch. Als sie fertig war, schob sie die Teller und Tassen so lange auf dem Tisch hin und her, bis ich den Faden gefunden hatte.
„Die Leute sind merkwürdig.“
„Ach so.“
„Sie machen schräge Rockmusik.“
„Wie interessant.“
Das alte Haus war ihr vollkommen egal. Materielle Dinge waren ihr nie wichtig gewesen. Nur die Erinnerungen an die Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hatte, waren ihr sehr wichtig, und die verwahrte sie in allen Details in ihrem Herzen.
Beim Gedanken daran, dass ich wahrscheinlich die letzte sein würde, mit der Oma Liese ihr Leben teilen würde, zog sich mein Magen zusammen. Es war nicht fair, dass gute Menschen wie sie krank im Rollstuhl saßen. Es war ungerecht, dass die Guten starben und Leute wie der Dormanns reich und wichtig tun konnten.
Mittwoch, 23.6.2010
Freya saß am Mittwoch im Eingang zum Forum und winkte mich zu sich, als die Busschüler in den unförmigen eckigen Schulbau aus den siebziger Jahren strömten, eine Bausünde aus Zeiten, als Ökologie noch mit der Landschaftspflege durch den Bulldozer verwechselt wurde. „Ich war krank“, sagte sie beiläufig, „und hatte Zeit, den Dachboden zu inspizieren. Sieh mal, ich habe in Opas alten Sachen einen Pieker für das Ringreiten gefunden.“ Sie holte eine metallene Speerspitze aus ihrem Rucksack, die an einen pistolenähnlichen Handgriff geschmiedet war. Ich hatte selbst einen deutlich kleineren Pieker, der aus einfachem Draht gefertigt war.
Dass wir beide Pferde mochten, war nicht gerade originell für Mädchen im Hamburger Speckgürtel. Als Freya nach Wakendorf gezogen war, hatte ich sie zum Ringreiten eingeladen, das jährlich zu Pfingsten im Nachbardorf Wilstedt veranstaltet wurde. So hatten wir uns angefreundet. In diesem Jahr war das Ringreiten, das ein sehr kleiner Verein organisierte, wegen Erkrankung der Veranstalter auf das erste Wochenende im Juli verlegt worden. Das kam mir sehr entgegen, weil mein Pflegepferd Stine noch immer nicht rechts galoppieren konnte. Wenn sie in der Ringreitgasse, die immer rechts herum führte, wegen dieser Balanceschwäche strauchelte oder in Trab fiel, würde der Durchritt nicht gewertet, selbst wenn ich den Ring gestochen hätte.
„Zu Anfang könnte ich den großen Pieker benutzen und in den Endläufen, wenn sie kleinere Ringe aufhängen, meinen eigenen. Hast du vielleicht auch Lust zu starten?“
Sie schaute bekümmert. „Ich habe kein Pferd.“
„In Tangstedt gibt es mehr Pferde als Einwohner. Wir können in einigen Ställen fragen und Zettel aufhängen.“
Dankbar sagte Freya: „Kora, du bist eine echte Freundin.“
Frau Hunger fing uns schon im Forum ab. Sie ging zielstrebig auf uns zu, winkte und schien besorgt. „Ihr habt doch gestern den Robert herumgeführt. Hat er euch da irgend etwas davon gesagt, dass er heute nicht zur Schule kommt?“ Freya und ich zuckten mit den Schultern. „Hat er auf euch einen ängstlichen Eindruck gemacht, oder ist euch etwas aufgefallen? Er ist nämlich gestern nach der Schule verschwunden.“ Wieder konnten wir nur mit dem Kopf schütteln. „Der ist merkwürdig“, murmelte Freya, als Frau Hunger sich hektisch entfernt hatte, „der zieht so etwas an.“
Nachdem wir bei den Proben zur „Zauberflöte“ geholfen hatten, wollte ich zur Arbeit gehen, doch Freya fing mich ab. „Ich muss mit dir in Ruhe reden“, sagte sie und wir gingen in den verwaisten Oberstufenraum. Sie schloss die Tür sorgfältig, setzte sich auf das alte Sofa und zog mich mit hinunter. „Am Montag bin ich zusammengeklappt, wie du weißt“, begann sie. „Ja, ich auch, um halb zwei, direkt vor dem Planetarium“, platzte ich heraus. Sie riss die Augen auf. „Genau um die Zeit ist es mir auch passiert“, staunte sie, „Es war, als ob mir das Herz zerreißt. Dann bekam ich keine Luft mehr und alles wurde schwarz. Zum Glück hat mich jemand aufgefangen, sonst wäre ich direkt vor dem Haus meiner Eltern auf den Bürgersteig geschlagen.“ Ich drückte ihre Hand wohl zu fest, denn sie zog sie zurück und sah mich entgeistert an. „Au! Was hast du denn?“
„Ganz genau so war es bei mir“, japste ich, „und mich hat auch jemand gehalten, als ich aufwachte. Und vorher war mir ein Auto aufgefallen, das schon an der Schule gestanden hatte.“ „Ein roter Sportwagen?“, krächzte Freya und quetschte mir ihrerseits die Hand. Es stellte sich heraus, dass die Parallelen zu zahlreich waren, als dass wir an einen Zufall glauben konnten. Bis ins kleinste Ziehen fühlten wir gleich, waren von ungewöhnlichen Autos beschattet und von jungen Männern aufgefangen worden. Je mehr wir uns austauschten, umso merkwürdiger schien unsere Lage. Wir waren Teile eines Spiels, das wir nicht verstanden.
„Es gibt noch einen Grund, sich zu sorgen“, sagte Freya. „Ich habe geträumt, wie du in ein Loch fällst; ich stehe am Rand und sehe dir zu.“ Bedrückt sah sie auf den löchrigen Teppich. „Ich weiß nicht, warum ich da oben stehen bleibe und dir nicht helfe.“
„Ich habe nichts geträumt“, tröstete ich sie, „und auch kein schlechtes Gefühl. Das war wohl wirklich nur ein Traum.“
„Aber ich träume das seit unserem Geburtstag“, sagte sie nachdenklich, „immer wieder.“
Im Planetarium schwitzte ich mit wenigen Gästen vor mich hin und Georg bat mich nach der Vorstellung in sein Büro. „Du siehst ja, wie die Hitze die Leute von der Straße hält“, begann er, „bei dem Wetter gehen sie lieber baden, was ich gut verstehen kann. Morgen wird auch kaum jemand herkommen. Was hältst du davon, wenn du zur Abendvorstellung kommst? Da könnte ich deine Hilfe eher gebrauchen, zumal das Thema der Schau aktueller ist.“ Ich überlegte eine Weile, denn bislang war es praktisch gewesen, direkt von der Schule in Norderstedt nach Hamburg zu fahren. Zur Abendvorstellung zu erscheinen würde mich fast zwei Stunden kosten. Georg sah mir beim Nachdenken zu und bot mir schließlich an, die verlängerte Anreise zu bezahlen. So verabredeten wir uns für Donnerstag Abend um halb acht. Erst auf der Rückfahrt fiel mir auf, dass es unvernünftig von Georg war, mir so viel Geld für die Fahrt zu geben. Stattdessen hätte er einfach eine andere Hilfskraft einstellen können.
Zu Hause gab ich mir alle Mühe die verstörenden Fremden zu vergessen und blätterte ein wenig in Lieses Plattensammlung. Obwohl ich schon alle Stücke mehr als einmal durchgehört hatte, fiel mir jetzt Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ zum ersten Mal auf. Oma Liese hatte die Platte von Opa zum Einzug in das Hardenbergsche Haus bekommen, weil das Gedicht, wie ich dem Plattencover entnahm, von ihrem Lieblingsdichter stammte, Matthias Claudius. Während ich dem kurzen, traurigen Lied lauschte, bemerkte ich verwundert, dass der Tod im Lied eigentlich sehr zärtlich zu dem Mädchen sprach, nicht lockend, sondern verliebt, als sei er nur ein einfacher Junge und der Faszination am Mädchen erlegen.
Die Vorstellung, dass der Tod sich für das Mädchenhafte interessieren könnte wie ein Junge, fesselte mich. Warum hieß es im Deutschen „der Tod“, nicht „die Tod?“ Als ich über die Verteilung der Artikel nachdachte, fiel mir auf, dass es zwar „das Leben“, aber „die Liebe“ heißt. Also sind in der Grammatik nicht Tod und Leben, sondern der Tod und die Liebe spannungsgeladene Gegensätze und ich überlegte, wie das Leben grammatisch dazu passen sollte. Inzwischen hatte ich auf drei Zettel „Der Tod“, „Die Liebe“ und „Das Leben“ geschrieben, während ich an Lieses Sofatisch saß und immer wieder „Der Tod und das Mädchen“ auflegte. Ich schob die Zettel in möglichen Kombinationen hin und her. Stand das Leben über Tod und Liebe? Oder war es eine Folge von Tod und Liebe wie ein Kind, gezeugt von Vater und Mutter? Es gab noch eine dritte Möglichkeit: Zwischen Tod und Liebe schob ich das Leben, als Phase zwischen den Extremen.
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