Was war mit mir geschehen? Ich blickte zur Eingangstür und dachte an den Mann, der mir geholfen hatte, aber er war schon fort. Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Sicher war mir flau geworden und ich war zusammengeklappt. Der Mann musste in der Nähe gewesen sein, sonst wäre er nicht so schnell bei mir gewesen. Ich konnte mich nicht daran erinnern hingefallen zu sein und stellte fest, dass mir nichts weh tat. Vorsichtshalber sollte ich einmal nachsehen, beschloss ich, suchte die Toiletten links neben der Rezeption auf und sah in dasselbe langweilige, gesunde Gesicht wie immer: schwarze, wellige Haare, tiefgrüne Augen, zwei Grübchen, eine Nase, zwei Ohren.
Als ich zurückkam, wartete schon ein freundlicher Mann mit langem Pferdeschwanz und streckte mir die Hand entgegen. „Kora Heller? Ich bin Georg. Wir beide bringen die Nachmittagsvorstellung über die Bühne. Komm mit, ich zeige dir erst einmal, was du tun sollst. Den Vertrag können wir hinterher schreiben.“
An die Führung konnte ich mich schon auf dem Weg nach Hause nicht mehr erinnern, nur daran, dass einige Familien und ein paar Touristen sich in die breiten Kinosessel pflanzten, die rund um die Projektionsanlage auf ansteigenden Rängen angebracht waren. Ich riss Eintrittskarten ab und wischte einmal die Toiletten durch. Irgendwie musste ich nach Hause gekommen sein, aber die Bahnfahrt hatte ich sicher verschlafen. Im Bus kam ich wieder zu mir und als ich zu Hause ankam, war mit meiner kleinen Welt alles in Ordnung, außer dass der alte Dormanns seinen fahrbaren Tante- Emma- Laden direkt vor unserem Haus geparkt hatte.
Mein Versuch, unbemerkt hinter der noch verschlossenen hinteren Verkaufstür herum zum Eingang unseres Grundstücks zu kommen, misslang. „Hallo Kora!“, rief er übermäßig erfreut aus der Fahrertür, die sich so weit geöffnet hatte, dass er seinen schwabbeligen Schweißkörper den Tritt herunterwuchten konnte und mir in dem Moment den Weg abschnitt, als ich fast an der rettenden Gartenpforte angekommen war. „Wat büst du groß worden! Ne richtige Deern, wat?“ Über dem Zigarrenstummel zwischen den bräunlichen Zähnen leckte sein Blick mich von oben bis unten ab.
Es gab nichts Ekligeres, als dem alten Dormanns in die Finger zu kommen. Er wohnte in der oberen Dorfstraße und besaß dort einen Resthof, ließ seine Schwester Martha den elterlichen Krämerladen in der Hauptstraße führen, fuhr selbst lieber seine tägliche Tour über die umliegenden Dörfer und verkaufte abgelaufene Konserven, hoffentlich frisches Brot und alles, was in seinem alten Kühlschrank im hinteren Teil des begehbaren Busses Platz fand. Für einige alte Leute, die ohne Auto hier aufgeschmissen waren, stellte sein Besuch eine wichtige Versorgungsmöglichkeit dar. Seiner Bedeutung bewusst, atmete der Dormanns Waren aus und Informationen jeder Art ein, die er nutzte, um überall seine Strippen zu ziehen. Um ihm zu entkommen, log ich: „Ick mutt rin, hab‘ s eilig, Wiedersehen!“
Aber so leicht ließ er mich nicht davonkommen. Er guckte hochdeutsch und holte Luft: „Deine Großmutter hat bei mir etwas bestellt. Pass mol op“, knurrte er durch die Zigarre und machte sich am Hintereingang des Wagens zu schaffen. „Kümm rin, ick bün glieks soweet!“.
Natürlich ging ich nicht hinein. Den Fehler hatte ich einmal gemacht, als ich noch klein und blauäugig gewesen war. Er hatte mich am Arm gegriffen und in ein Gespräch verwickelt, während er mit dem Rücken eines Fingers an meinem noch nicht vorhandenen Busen entlanggestrichen war. Zum Glück hatte ich erst Jahre später begriffen, dass das kein Versehen war. Waltrauds Rufen hatte mich gerettet. Danach war meine Lehrzeit beendet, was freundliche, stinkende Männer betraf.
„Hier“, sagte er und drückte mir missmutig ein Päckchen in die Hand, „giff dat to Liese und sech eer, se künn anner mol betolen.“
Wortlos ging ich durch die Pforte und schloss sie hinter mir.
Meine Eltern, die im Haupthaus vorn wohnten, waren nicht da, das Auto fehlte. Als ich dem schmalen Plattenweg links um das Haus folgte, fingerte ich nach dem Schlüssel und rief nach dem Aufschließen gleich: „Ich bin‘ s, Oma!“, damit Oma Liese nicht „Wer ist da?“ brüllen musste. Das erste winzige Zimmer links war unser Bad. Meine Eltern hatten die Badewanne herausreißen lassen und eine behindertengerechte Dusche für meine Oma eingebaut. Trotzdem war es ganz schön eng. Rechts ging es zur Küche, die ohne Wand mit dem kleinen Wohnzimmer verbunden war. Der Esstisch bot Platz für zwei Personen und einen Gast, dahinter stand das Sofa vor dem Fernseher. An der Wand klebte ein schmaler Wohnzimmerschrank, in dem sich unsere gemeinsamen Reichtümer stapelten: Vinylschallplatten neben DVDs, Pralinen neben Kartoffelchips.
Aus dem Wohnzimmer führte eine zweite Tür hinaus auf den Flur. Genau gegenüber schlief meine Großmutter in einem quadratischen Raum, den ihr Pflegebett dominierte.
Im Flur zwischen dem Bad und ihrem Zimmer führte eine enge, knarrende Raumspartreppe in mein Reich voller Dachschrägen und kleiner Erker. Weil meine Großmutter einen leichten Schlaf hatte und ich nicht immer die enge Treppe hochklettern wollte, hatte ich von außen eine Leiter an die Hauswand gelehnt. Das Fenster ließ ich meist offen, besonders jetzt im Sommer. So konnte ich unbemerkt kommen und gehen, wie ich wollte, und das war das Beste an unserer gemeinsamen WG.
„Hallo Kora! Das Essen ist fertig. Beeil dich, sonst wird es kalt!“
Das war reine Koketterie. Ich hatte meine Oma noch nie kochen sehen, auch früher nicht, als Opa noch lebte. Unser Mittagessen war von „Essen auf Rädern“. Am Wochenende kochte ich oder meine Mutter Waltraud.
Ich zog meiner Großmutter, die schon aufrecht im Bett saß und die Füße aus dem Bett baumeln ließ, eine Strickjacke und dicke warme Strümpfe an und holte dann den Rollstuhl. Sie reichte mir ihre Hände, obwohl sie sich sehr gut allein in den Stuhl setzen konnte. Als ich beide gefasst hatte, drückte sie sie mit ihren zarten Händen und sah mir spitzbübisch grinsend in die Augen. Ich wusste, wie sehr sie sich nach Berührungen sehnte. Als sie sich gesetzt hatte, legte ich von hinten beide Arme um ihre Schultern. So standen wir eine Weile da. „Ab jetzt wird sich dein Leben verändern“, sagte sie versonnen. Ich wunderte mich, dass auch sie der Volljährigkeit solche Bedeutung beimaß, wo sie doch schon so alt war.
Beim Essen versuchte ich der klassischen Eröffnungsfrage „Na, wie war‘ s in der Schule?“ zuvorzukommen und erzählte Liese, wie der Tag verlaufen war. Den Zwischenfall mit meiner kleinen Ohnmacht verschwieg ich. Oma Liese hatte ein merkwürdiges Verhältnis zu Krankheit und ich wollte vermeiden, dass sie mich eingehend untersuchte. Früher hatte es mir gefallen, wenn sie zunächst meine Augen gründlich untersuchte, mir die Hand auf den Kopf legte und eine Diagnose stellte, bevor sie meine Wehwehchen wegblies, mit der Hand fing oder absaugte. Ich war mir damals sicher, dass es hilft.
Ich nahm unsere Teller und Gläser, stopfte sie in die winzige Geschirrspülmaschine, rollte meine Oma vor den Fernseher und reichte ihr die Fernbedienung. Sie konnte stundenlang Serien anschauen und lebhaft mit den Schicksalen der Helden mitgehen. Manchmal sprach sie auch mit den Schauspielern. Und gelegentlich hörte ich sie, auch ohne dass der Fernseher lief, mit Leuten sprechen, die nicht da waren.
So früh war ich noch nie ins Bett gegangen. Ich fühlte in mich hinein, ob von der Ohnmacht nicht doch etwas geblieben war und entdeckte tief in meinem Innern ein leichtes Ziehen. Es fühlte sich an wie Sehnsucht oder Hunger, obwohl ich gerade gegessen hatte. Schon merkwürdig, wie unsensibel ich war, dass ich solche Gefühlte nicht unterscheiden konnte. Dann nickte ich ein, bis Waltraud, meine sonst so hektische Mutter, mich ungewöhnlich sanft weckte, mir zum Geburtstag gratulierte und mich einlud, mit meinem Vater Wolfgang und Oma Liese noch ein wenig auf der Terrasse zu feiern. Sie nahm Oma Liese gleich mit nach vorn und ich kam nach, als ich wach genug war.
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