Als ich die Schule verließ, sah ich mich nach dem Oldtimer um, aber die Straße war leer und die Fahrt in den Stadtpark verlief ereignislos, sodass ich diesmal etwas aufmerksamer Georgs Erklärungen zur aktuellen Vorstellung der Sternwarte folgte.
„Wir zeigen seit Anfang 2009, dem Jahr der Astronomie, unsere Show „Die Macht der Sterne“, in der wir verdeutlichen, wie die Menschen der Bronzezeit vor über fünftausend Jahren und wohl sogar der Steinzeit vor etwa dreizehntausend Jahren ihre Beobachtungen über die Erscheinungen am Himmel festgehalten und genutzt haben, um Ereignisse im Jahr festzulegen oder vorherzusagen.“
Das kam mir merkwürdig vor. „Ich dachte, ihr macht hier Astronomie und nicht Astrologie.“ Mit der Sternendeuterei hatte ich nichts am Hut.
Georg lachte. „Wir sind Wissenschaftler und interessieren uns ausschließlich für die echten Phänomene am Himmel, das ist wahr. Nur können wir jetzt dank der Himmelsscheibe von Nebra und des Schädels der Ahrensburger Kultur beweisen, dass schon die Jäger der Eiszeit, denen wir nicht das Lesen und Schreiben zugetraut hatten, wussten und festhielten, wann die Tage länger oder kürzer wurden oder wann sie den Zug der Rentiere durch das Tunneltal erwarten konnten.“
Ich verstand nicht, was daran sensationell sein sollte. Es gab vier Jahreszeiten, da merkte man doch, wann es warm wurde. Und es gab die Mondphasen; wenn man die zählte, wusste man, wie viele Monate es waren bis zum nächsten Jahr um dieselbe Zeit. Aber egal, ich hatte ja auch nur den einfachen Job - Karten abreißen und Hygienefachkraft spielen.
Während der Film lief, blieb ich im Rundumkino und konnte der kuppelförmigen Projektionsmaschine bei ihrem Spektakel zusehen, das sie auf die große Kuppel über uns projizierte. So viel verstand ich von der Vorstellung:
Am 4. Juli 1999 fanden Raubgräber bei Nebra in Sachsen- Anhalt in einem Grab aus der Bronzezeit Schwerter, Beile und diese merkwürdige Scheibe aus Bronze mit goldenen Einlegungen, die wie Sonne, Mond, Sterne und drei bananenförmige Boote aussahen. Ein Museumsmensch gab sich als Hehler aus und kaufte den Jungs in einem Hotel die Scheibe ab, dann griff die Polizei zu und die Ausgräber bekamen hohe Strafen. Anschließend beschäftigte diese tellergroße Scheibe jahrelang die Forscher vieler Museen, Institute und etliche Kriminalwissenschaftler, bis klar war, dass sie schon etwa dreitausendsechshundert Jahre alt sein musste. Anschließend gingen die Bilder des Fundes an Astronomen und Historiker, die herausfanden, wozu die Himmelsscheibe diente: Ganz früher enthielt sie die Schaltregel vom Mond- zum Sonnenkalender, denn in der Entstehungszeit der Scheibe konnte in dieser Region noch niemand schreiben. Dann wurde sie verändert: Zwei Bögen wurden an den Seiten angebracht. Wenn die Scheibe in Nebra wie ein Teller auf einem Tisch so hingelegt wurde, dass man dicht über sie hinwegsehen konnte, musste man nur noch diesen Diskus drehen, bis das Heck des einen goldenen Bootes genau mit der Silhouette des Brocken, des höchsten Harzberges, den man von Nebra aus sehen konnte, zusammentraf. Das war der Punkt des Sonnenuntergangs zur Sommersonnenwende, von dem aus die Tage wieder kürzer wurden. Wenn die Sonne sich nach ihrer Bogenfahrt von rechts nach links- denn der Betrachter stand auf der nördlichen Halbkugel und blickte nach Norden- auf der Bergspitze niederließ, hatte die Sonne den längsten Tag geherrscht. Der Bug des Bootes lag ein Scheibenviertel weiter rechts herum genau auf dem Abendpunkt der Wintersonnenwende. Das goldene Boot fuhr also von links nach rechts. Zwischen beiden Punkten, sozusagen dort, wo der Mast aufragen würde, war die Tag- und Nachtgleiche. Von hier ab begann die Herrschaft der Nacht über den Tag.
Auf der anderen Seite der Scheibe lag das zweite Boot genau gegenüber, sodass man dort den Sonnenaufgang zur Sommer- und Wintersonnenwende vorhersagen konnte. Damit hatte man das Jahr zeitlich sauber geviertelt und konnte Saat- und Erntefeste feiern. Wer die Scheibe besaß, war der Herr über die Zeit, denn Mondphasen zählen, wie ich gedacht hatte, funktionierte nicht, weil das Mondjahr elf Tage kürzer ist als das Sonnenjahr. Ich hatte vergessen, dass die Erde um die Sonne, aber der Mond in Schlaufen um die Erde kreist.
In einer dritten Bearbeitung bekam die Scheibe einen engen Bogen aufmontiert, der ein Boot darstellen könnte.
Georg war stolz darauf, dass die Scheibe etwa zweihundert Jahre früher hergestellt war als die ersten Himmelsdarstellungen im alten Ägypten und dass sein Institut in Hamburg das mit der Sonnenwende herausbekommen hatte. Noch aufgeregter war er, als er mir im Büro vom Fund des Schädels in Ahrensburg erzählte.
„Du musst unbedingt einmal zur Abendvorstellung kommen. Da zeigen wir, was die Steinzeitmenschen bei Hamburg vor dreizehntausend Jahren vom Himmel wussten- nämlich dasselbe! Im letzten Sommer hat ein Junge im Tunneltal von Ahrensburg eine Sekte bei einer schwarzen Messe im Wald entdeckt, die einen Totenschädel auf einem Pfahl verehrten. Der Kleine holte die Polizei und die nahm ihnen den Schädel ab. Erst untersuchten ihn die Rechtsmediziner, weil sie glaubten, es handele sich um einen Ritualmord, und die konnten nicht glauben, was ihre Instrumente ihnen sagten: Der Schädel war elftausend vor Christus mit diesen merkwürdigen Kreisen und Strichen markiert worden.“ Georg zeigte auf ein Plakat an der Wand, das einen kohleschwarzen, wie gelackt glänzenden Schädel von oben zeigte, auf dem zwei Kreise eingeritzt waren, ein großer äußerer und ein dicht darin verlaufender innerer. Beide waren an drei Stellen unterbrochen. Es sah aus wie ein von oben gezeichneter Mauerkreis mit drei Durchlässen oder wie ein Murmelspiel, das ich früher mit meinem Sandkastenfreund Björn gespielt hatte. Im Kreis und darum herum waren Zeichen eingeritzt, die Sonne, Mond und Sternen ähnelten und der Mauerkreis war an vielen regelmäßig voneinander entfernten Stellen mit kleinen Querstrichen versehen wie mit Markierungen auf einer Uhr, nur dass es viel mehr waren.
„Wenn man diesen kieferlosen Schädel auf einen Pfahl steckt und ihn mit dem Blick zum Sonnenuntergangspunkt zur Wintersonnenwende ausrichtet, zeigt die eine Öffnung des Kreises auf den Sonnenaufgang und die andere auf den Sonnenuntergang der Sommersonnenwende. Und die dritte Markierung ist dann genau Norden.“ Georg fuhr aufgeregt über das Plakat und ignorierte mein demonstratives Gähnen. Es wurde mir zu viel und ich wollte nach Hause.
„Diese Striche passen genau auf die Punkte der Sommersonnenwenden und das beweist, dass unsere Steinzeitmenschen schon kannten, was die Anlagen in Stonehenge vor fünftausend, in Goseck vor mehr als siebentausend und in Göbekli Tepe vor vielleicht elftausend Jahren in Großanlagen dargestellt haben. All diese Leute hatten die Macht des Wissens über die Zeit, den genauen Jahreskalender, die Macht der Sterne.“
Unhöflich, aber bestimmt stand ich auf. „Ich muss jetzt nach Hause. Bis morgen.“ Georg folgte mir bis zum Ausgang. „Wenn es dich interessiert, komm doch am Sonnabend um acht Uhr hierher. Da gibt es einen riesigen Medienrummel mit Fernsehen, Stars und Zeitungen. Das Museum für Hamburgische Geschichte leiht den Schädel aus, erst zeigen wir den Film vom Ahrensburger Fund und seiner Bedeutung und dann richten wir ihn auf der Sichtachse zum Freibad aus auf die Sterne. Da gibt es nämlich noch viel mehr, das man anhand des Schädels erklären kann.“
Es interessierte mich nicht und ich war froh, nach Hause zu kommen.
Obwohl meine Füße nach dem langen Tag platt waren, schob ich Oma Liese nach unserem gemeinsamen Essen spazieren und registrierte auf dem Rückweg, dass ein Fremder auf dem schwarzen Motorrad saß, das schon einmal vor der Ausfahrt der Strunzens gestanden hatte, und sich gerade einen Helm überstülpte. Nur stand das Motorrad genau vor unserem Haus. Für einen Moment glaubte ich, das Gesicht des Mannes zu kennen. Dann sagte ich mir, dass wir viel zu weit entfernt waren.
Читать дальше