Waltraud, Oma Liese und Wolfgang peten mit Sekt auf meine Volljährigkeit und schoben mir einen Umschlag zu. Sie hatten zusammengelegt und waren stolz auf die zweitausend Euro, die der Führerschein kosten würde, mein Ticket in die Freiheit. Wer in Tangstedt lebte und kein Auto hatte, kam nach zehn Uhr nirgendwo hin. Am Wochenende erreichte der letzte Bus Tangstedt um Mitternacht, obwohl hier alle in meinem Alter mindestens am Wochenende nach Hamburg fuhren, wo die meisten Läden erst um elf Uhr öffneten und ab zwei Uhr Stimmung aufkam. Waltraud bot mir an, ich dürfe am Wochenende ihr Auto mitbenutzen.
Glücklich ließ ich das alles erst einmal sacken und sah in die Sterne, die sich langsam gegen den Abendhimmel durchsetzten und einer nach dem anderen aus dem Dunkelblau auftauchten, als hätte jemand am Dimmer gedreht. Zu behaupten, ich hätte wenigstens eine entfernte Ahnung von den Sternen, war übertrieben, daher erkannte ich nur die schmale Mondsichel, die ein paar Fingerbreit über dem Fliederbusch stand. Den großen Wagen, den ich auch noch erkannt hätte, konnte ich nicht entdecken. Da begann es, Sternschnuppen zu regnen. Immer wieder leuchtete eine auf und ich überlegte, ob ich mir etwas wünschen sollte, auch wenn ich nicht daran glaubte, dass Sternschnuppen irgend eine Bedeutung hatten.
Waltraud, die mich beobachtet und dann mit mir in die Sterne gesehen hatte, sagte verträumt: „ Heute war Sonnenwende, der längste Tag im Jahr. Früher haben wir das mit Fackelläufen und einem großen Feuer gefeiert.“
Ich erinnerte mich daran, wie Waltraud einmal erzählt hatte, ihre Familie habe diese alten Bräuche nur zur Zeit der Nazis beschämt aufgegeben und danach wieder aufgenommen.
Bald wurde es zu kalt, um draußen zu sitzen und wir gingen jeder in seine Wohnung, als der Mond schon über der Terrasse stand. Ich half Oma Liese beim Umziehen und wünschte ihr eine gute Nacht, dann kroch ich unter meine Decke und begann zu grübeln.
Warum hatte der Mann, der mir geholfen hatte, gewusst, dass ich noch rechtzeitig zum Planetarium kommen würde? Warum hatte er mich geduzt? Und warum hatte der alte Mercedes vor der Sternwarte gestanden, als habe er mich von der Schule dorthin begleitet?
Je länger ich darüber nachdachte, umso misstrauischer wurde ich. Vielleicht war mir doch nicht einfach so flau geworden und der Schöne kein Retter, sondern jemand, der mir gefolgt war. Sobald der Gedanke auftauchte, verwarf ich ihn jedes Mal, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass jemand mich verfolgte. Es gab keinen Grund dafür.
Nach stundenlangem Grübeln kam ich auf die Idee, mich wieder anzuziehen und nachzusehen, ob der Mercedes vielleicht auf der Straße stand. Dann hätte ich mir wenigstens sinnvoll Sorgen gemacht. Die Treppe knarrte leise und ich schlich so leise hinunter wie möglich, um Oma Liese nicht zu wecken und schloss die Haustür hinter mir mit dem Schlüssel, damit niemand hineingehen konnte, während ich vorne war. Auf dem Weg am Haus vorbei fühlte ich mich beobachtet und drehte mich mehrmals um, besonders als es im Busch an der Terrasse raschelte. Der Wind strich leise über die Birkenwipfel am Zaun. Direkt über stand der fahle Mond. Auf der Straßenseite gegenüber parkten die üblichen Autos: Der Polo, der verbeulte Toyota, der alte BMW und der Lieferwagen. Hier kannte jeder jeden und ein neues Auto erregte sofort Aufsehen. Hinter der Ausfahrt von Familie Strunz bemerkte ich ein schwarzes Motorrad, das dort sonst nicht stand, aber der Mercedes war nirgendwo zu sehen. Beruhigt ging ich wieder hinein und konnte endlich schlafen.
Sie ließ das Buch sinken und starrte in die dunkle Glut des verlöschenden Feuers. „Mein Gott, wie ahnungslos sie war“, flüsterte sie.
Der Mann nahm ihr vorsichtig das Buch aus den Händen und schloss es. Dann legte er seinen Arm um sie, aber sie reagierte nicht. „Wir sollten auf die anderen warten, bevor wir weiterlesen.“
Die beiden jungen Männer und die Frau legten sich auf provisorische Lager rund um das Feuer. Der Mann stand auf und wollte die alte Frau aufheben.
„Ich kann selbst ins Bett gehen.“
Er lächelte im Dunkel. „Daran habe ich mich noch immer nicht gewöhnt.“
Sie schlief nicht, ebenso wenig wie die jungen Leute, sodass die vier den tiefen Atemzügen des Mannes lauschten und dem Geheule der wilden Hunde, die in den Bergen jagten.
In den Tiefen der Höhle zirpten und kreischten Fledermäuse, die durch die kleinen Eingänge oberhalb des großen Gewölbes von der ersten Jagd zurückkehrten, um ihre Jungen zu füttern.
Tamer hörte die Angekündigten zuerst und sprang lautlos auf, gefolgt von den anderen. Nur der alte Mann schlief noch, als sie vor die Höhle traten und ins Dunkel lauschten, wo das Mondlicht aus der vor ihnen sich ausbreitenden Ebene die Geröllfelder, die Ruinen und die Straße grau hervorhob.
Sie waren acht, die nacheinander die alte Frau in den Arm nahmen und die anderen grüßten. Inzwischen war der alte Mann erwacht und kam hinzu.
„Sie bewachen die Nagaa Al- Ghabat rund um die Uhr“, berichtete ein junger Mann mit Narben im Gesicht, „wir mussten von der Al Giza- Luxor nach Nordwesten durch das Gebirge wandern.“
„Wie kommen wir nun an Wasser?“, überlegte die junge Frau, die mit Tamer gekommen war.
„Wir könnten im Schutz des Gebirges nach Norden ziehen und auf die Sandpiste westlich von Araba el Madfuna stoßen. Dort liegen ein paar einsame Gehöfte“, schlug einer der Männer vor.
Eine farbige junge Frau, die mit den acht gekommen war und sich seitdem an Tamers Seite gehalten hatte, widersprach mit einem französischen Akzent, der so schön war wie sie selbst: „Seit die große Flut nag‘ der Sprengung des Assuan- Staudamms abgeklungen ist, ‘aben die Bauern dort keinen Strom mehr. Es ist alles vertrocknet und vergiftet. Das näg‘ste nicht verseug’te Wasser fließt in dem Kanal vor der Karet Yaakoub- Al Blena.“
„Wir senden Wasser vom Himmel nach Maßen, und Wir lassen es in der Erde versickern; und wahrlich, Wir können es wieder hinwegnehmen“, zitierte Tamer.
„Menschen haben den Damm gesprengt, Tamer“, erklärte die schöne Frau lahm.
„Allah lenkt alle Dinge vom Himmel bis zur Erde“, widersprach dieser und lachte wie irre. „Das habe ich mal geglaubt, Amadée.“
Die angesprochene seufzte und sah sich um. „Was steht nun in dem Bug‘?“
Wortlos reichte der Alte ihr den schwarzen Band und sie las.
„Lies vor“, forderte der Narbige sie auf.
„Das ‘örst du dir keine fünf Minuten an, Schesmu“, sagte Amadée und reichte das Buch an die junge Frau weiter, die mit der ersten Gruppe die Höhle erreicht hatte.
„Clara, lies du.“
Clara überflog die Seiten, dann vertiefte sie sich in eine Stelle.
Offensichtlich enttäuschte sie, was dort stand.
Dienstag, 22.6.2010
Am nächsten Morgen verschlief ich den frühen Bus, aber das war egal. Ich konnte in die Schule fahren, wann ich wollte, schließlich war ich nur noch freiwillig da und machte bei den Sachen mit, die mir Spaß machten wie das Rock- Theater der „Zauberflöte“. Bis die Proben anfingen, hatte ich noch Zeit, mich um Freya zu sorgen, die auch noch nicht aufgetaucht war, und rief sie an.
Freyas Mutter Gaby meldete sich und sagte, Freya sei an ihrem Geburtstag zusammengeklappt und heute zu erschöpft um zur Schule zu kommen. Das erklärte einiges: Vielleicht hatten wir einen Virus? Ich konzentrierte mich noch einmal auf mein Inneres und stellte fest, dass das leise Ziehen noch immer da war, es war sogar stärker geworden, ohne dass ich seinen genauen Ort feststellen konnte, und mischte sich mit einer inneren Unruhe, die ich sonst nicht kannte.
Die Probenbesprechung für die „Zauberflöte“ war kurz. Wir bekamen jeder ein Manuskript und ich nahm das für Freya gleich mit. Weil ich nicht mitspielte, sollte ich bei den Proben soufflieren und bei der Bühnenbild- Gruppe mithelfen.
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