„Und mit einem Verlies, wo sie sich kopfüber zum Schlafen aufhängen.“ Philipp lachte hämisch.
Der merkwürdige Neue war also ins ehemalige Haus von Oma Liese und meinem Opa Georg gezogen, das sie nach seinem Tod verkauft hatte. Mit diesem Geld hatten meine Eltern das Haus gebaut und die Steuerkanzlei aufgemacht. Ich fühlte, wie der Ärger in mir hochstieg, als ich mir kreischende Metal- Rocker in Lieses Haus vorzustellen versuchte.
Im Bus fand ich einen Platz in der Mitte. Der merkwürdige Neue hatte sich nach hinten verzogen und saß lässig schief auf zwei Sitzplätzen.
Das Schulzentrum Süd in Norderstedt sah mit seinen bunten Wandplatten so hässlich aus wie immer, nur dass heute die Sonne heller schien als sonst. Nein wirklich, das kam mir nicht nur so vor, weil ich jetzt erwachsen war. Es war gleißend hell und wohlig warm. Ich liebte die Sonne, es konnte gar nicht hell und warm genug sein.
Der Oberstufentrakt war wieder sauber. Nach der letzten Prüfung hatten wir vor den Abistreichen ganz schön gebechert und den Nadelfilzteppich unter Konfetti und Partyschlangen begraben. Dann hatte Lisa vom Hof ihres Vaters einen ganzen Laster Sand anfahren und ins Forum kippen lassen. Wir hatten Palmen und Sonnenstühle darauf verteilt und mit den Lehrern Sommerspiele veranstaltet. Herr Vollmer hatte das Rennen mit Flossen, Rettungsring und Schnorchel gewonnen und Frau Lämmer mit Schulleiter Rossmann im gefüllten Babybecken „Die Wanne ist voll“ singen müssen. Brav wie wir waren, hatten wir erst unsere Hände in ein Betonbett gedrückt, das den Betonplatten im Oberstufenhof hinzugefügt wurde, und anschließend alles gereinigt. So waren wir.
Jetzt stand Lisa neben Freya Gemin, zugezogen im September vorigen Jahres und seit Neuestem meine Freundin, und lächelte. „Du strahlst ja wie die Morgensonne! Wie geht´s dem Geburtstagskind?“ Ich bekam Küsschen links und rechts und fühlte mich richtig gut. Glücklich wie ich war, hätte ich Freyas besorgten Gesichtsausdruck selbst dann nicht bemerkt, wenn sie sich nicht bemüht hätte, ihn zu verbergen.
Sie drückte mir ein weich eingepacktes Geschenk in die Hand. „Pack aus!“ Es war ein T-Shirt mit Sternenhimmel darauf. „Für deinen neuen Job“, erklärte sie.
Nun war ich an der Reihe.
Theatralisch nahm ich sie mit lautem „Herzlichen Glückwunsch, du Sommersonnenwendenkind!“ in die Arme. Sie bekam einen Skarabäus an einem Armreif, weil sie wie ihre Eltern ein großer Fan des alten Ägypten war.
Erst vor Kurzem hatten wir entdeckt, dass wir am selben Tag Geburtstag hatten. Mehr noch, wir waren zur selben Stunde geboren. Das schweißte uns noch mehr zusammen als unsere Vorliebe für Pferde.
Nachdem sie die verschlampten Bücher der letzten drei Jahre abgegeben hatte, warfen Freya und ich uns in die dreckigen Sofakissen im Oberstufenraum. „Was liegt an? Gehen wir trotzdem mal baden?“ Freya gähnte und sah auf die Uhr. „Wie konnte ich nur die nächsten drei Wochen hier herumhängen wollen!“ Ich bekam ein wenig Gewissensbisse, schließlich hatte ich sie dazu überredet, mit mir in den Tagen nach dem Abi der Schule etwas Gutes zu tun und die Lehrer dafür zu entschädigen, dass sie uns im letzten Jahr viele Extrawürste braten mussten. Vor allem waren wir dankbar, weil sie uns kaum noch aufgeschrieben hatten, wenn wir zu spät kamen. Dorfkinder kommen oft zu spät, besonders bei Schnee und Eis. „Es ist ja nicht jeden Tag“, tröstete ich Freya.
„Habt ihr einen Moment Zeit?“ Frau Hunger war schon eingetreten, bevor wir „nein“ sagen konnten und machte Platz um den Blick auf einen mageren Jungen freizumachen, dem das Ganze sichtlich peinlich war. „Dies ist Robert Rost. Er wohnt eigentlich in Ahrensburg, aber er musste kurzfristig die Schule wechseln. Könnt ihr ihn ein wenig herumführen und ihm Bücher organisieren? Vielen Dank, ich wusste, auf euch kann ich mich verlassen!“ Weg war sie.
Als ich begriff, dass ich wohl so verdutzt aussah wie Freya, musste ich lachen. Sie lachte mit und wir wurden albern, sodass mir das Zwerchfell schmerzte und ich keine Luft mehr bekam. Robert hatte nicht mitgelacht. Er sah sogar ziemlich traurig aus. Während wir den pickelverzierten Hungerhaken herumführten, versuchte ich deshalb, ein wenig Konversation zu machen. „Warum bist du an unserer Schule, wenn du so weit weg wohnst?“
Erst dachte ich, er würde nicht antworten. „Ich habe ein paar Leute bei der Polizei gemeldet. Danach haben sie mich bedroht“, drückte er heraus.
Freya musterte ihn angewidert. Schmal und kraftlos stand er als echtes Opfer mit hängenden Schultern zwischen uns und hielt den Blick auf die Zehenspitzen gesenkt. „Vielleicht musstest du ja auch nicht petzen“, sagte sie kalt. Roberts Gesicht lief rot an, aber er blieb stumm.
Mich beschlich das Gefühl, dass er viel zu zurückhaltend war um jemanden ohne sehr triftigen Grund anzuschwärzen. Wenn ihm etwas Schlimmes geschehen war, braucht er Hilfe. Neben meinem Mutterinstinkt weckte Roberts Verhalten etwas anderes: Neugier.
Es war nicht ganz fair gegenüber Freya wie Robert, aber ich musste beide allein lassen und den Bus zur U- Bahn Richtung Stadtpark nehmen. Um zwei Uhr sollte ich mich in der Sternwarte melden und meine Einweisung für was auch immer erhalten. Das hatte mir niemand gesagt, aber ich wollte es auch nicht wissen, Hauptsache, es gab Geld für mein Hobby. Reiten ist teuer.
Vor der Schule stand ein sehr altmodischer Mercedes, schwarz mit viel Chrom. Der Fahrer trug eine Mütze wie ein Chauffeur. Ich wunderte mich, dass wir an der Schule reiche Kinder haben sollten, dann konzentrierte ich mich auf den Weg zum Stadtpark.
Das Planetarium lag mitten im großen Park und ich ging von der U- Bahnhaltestelle Sengelmannstraße direkt durch den Wald, bis ich an der Seite der großen Sichtachse herauskam, die das Planetarium mit dem Stadtparksee verband. Zwischen den beiden breiten Kieswegen lief ein Grasstreifen mit Rosenbeeten bis zum Platz vor dem flachen Brunnen, aus dem sich die backsteinbraune Protzfassade aus den dreißiger Jahren erhob. In einem der Beete lag ein blaues Band auf den Rosen und ich nahm es heraus und wickelte es um mein Handgelenk, einfach so. Ein Blick auf die Uhr zeigte: Es war fast halb zwei, also noch reichlich früh. Mein Magen knurrte. Obwohl ich wusste, dass es hier weit und breit keinen Laden gab, drehte ich mich einmal im Kreis und dachte nach, ob die Zeit reichte, bis zur Bahn zurückzugehen und dort etwas zu holen.
Als ich den schwarzen Oldtimer bemerkte, war es zu spät, mir darüber Gedanken zu machen, wie der Wagen von der Schule hierher gekommen war. Ein heller Schmerz zerriss mein Herz und presste die Luft aus meiner Brust. Dunkler Nebel füllte meinen Kopf.
Ich sah in den blauen Himmel und kniff die Augen zusammen, bis ich erkannte, dass sich neben mir ein junger Mann aufrappelte. Er hielt sich die Seite und atmete kurz durch, dann kniete er neben mir nieder. Ganz oberflächlich registrierte ich, dass das Gesicht unwirklich schön, aber auch unheimlich war. Schwarze Haare und Augenbrauen ließen die großen, türkisfarbenen Augen merkwürdig hervorstrahlen.
Als mein Kopf klar wurde, geriet ich in Panik.
„Ich muss ins Planetarium!“, japste ich und versuchte aufzustehen. Er half mir dabei und lachte, ließ mich aber nicht los. Auf meiner Uhr konnte ich nichts erkennen, ich sah alles verschwommen. „Wie spät ist es?“ Das sagte ich eher zu mir selbst, eigentlich war ich noch nicht ganz da.
„Du kommst noch rechtzeitig“, sagte der Mann grinsend und half mir die breite Treppe hoch, die links um die Sternwarte herumführte. Oben angekommen, war ich wach genug, um „Danke“ zu stammeln. Er ließ mich vorsichtig los und ich eierte in die Eingangshalle, wo ich meinen Namen nannte und gebeten wurde, auf der Bank vor der Rezeption Platz zu nehmen. An der gegenüberliegenden Wand war eine große digitale Zeitanzeige angebracht, die ich wenigstens lesen konnte: Es war zwanzig vor zwei.
Читать дальше