Wenn wie im Lied der Tod das Mädchen liebte, würden beide auf meinen Grammatikzetteln nur zusammenkommen, wenn ich „das Leben“ vom Tisch nahm.
Damit wollte ich mich nicht abfinden, es war nicht logisch und es gefiel mir nicht. Schon hatte ich vergessen, dass ich mir dieses Rätsel mit den Karten selbst aufgegeben hatte und ich verlor mich im Abstrakten, dabei hatte ich bei praktischen Problemen noch nie einfach aufgegeben. Das Leben war für mich etwas, das ich ergriff und festhielt, das in mir pulste und mir gehörte. Ich fühlte mich stark und lebendig, abgesehen von dem einen schwarzen Loch.
Als ich zwölf Jahre alt war, hatten meine Eltern mich für reif genug gehalten, mir von meinem vor der Geburt gestorbenen Zwilling zu erzählen. Er hätte Max geheißen. Max und Kora. Kora und Max. Seitdem konnte ich mir immer dann, wenn ich traurig war, mein Gefühl der Leere mit dem Tod meiner anderen Hälfte erklären.
Waltraud hatte mir als Kind erzählt, Max habe sich schlafen gelegt und sei nicht mehr aufgewacht. Oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, zu sterben, besonders wenn Waltraud mir mein Nachtlied vorsang:
Der Mond ist aufgegangen, die gold‘nen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen, die wir get belachen,
weil unsre Augen sie nicht seh‘n.
So legt euch denn, ihr Brüder in Gottes Namen nieder,
kalt ist der Abendhauch.
Verschon‘ uns, Gott, mit Strafen und lass‘ uns ruhig schlafen
Und unser‘n kranken Nachbarn auch.
Ich weiß nicht, warum ich die Tränen laufen ließ, bis ich einschlief.
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen. Das Ewige regt sich fort in allem. (Goethe)
Donnerstag, 24.6.2010
Weil ich erst am Abend arbeiten musste, hatte ich den ganzen Donnerstag Zeit für Freya. Eine Frau aus Norderstedt hatte sich gemeldet und Freya ihr Pferd angeboten. Der Wallach Lengo stand in einem Stall nicht weit von dem, in welchem mein Pflegepferd Stine untergebracht war. Freya verliebte sich sofort in das ruhige, sanfte Tier, das einmal auf große Turniere gegangen war und jetzt so langsam aufs Altenteil ziehen sollte. Nachdem auch die Besitzerin mit Freyas Reitkünsten überaus zufrieden war, durften wir die Pferde gemeinsam reiten. Wir beschlossen, bei dem schönen Wetter schon am frühen Nachmittag mit einem gemeinsamen Ausritt in das große Reitwegenetz der Tangstedter Wälder zu beginnen.
Lengo führte, Stine folgte. Wir überquerten eine Straße und erreichten eine breite Schneise, auf der wir nebeneinander im Schritt gehen konnten. Gut gelaunt planten wir die nächsten Wochen mit unseren Pferden. Am Ende der Schneise verengte sich der Weg wieder zu einem schmalen Waldweg und wir ritten automatisch wieder hintereinander. Nach einigen Minuten schlugen mir Fichtenzweige ins Gesicht und ich musste mich unter einigen Ästen ducken. Dadurch hatte ich verpasst, dass Freya angetrabt war. Stine gab einfach ohne meine Erlaubnis Gas und folgte Lengo. Ich nahm das als Zeichen, dass die Pferde sich schon aufeinander eingespielt hatten und genoss den Wind, der mir sanft das Gesicht umspielte und meine Haare wehen ließ.
Plötzlich scheute Lengo. Stine versuchte nicht in ihn hineinzulaufen und sprang seitwärts in die tiefhängenden Zweige, die mir gegen das Bein drückten. Beide Pferde sahen schnaubend nach rechts und suchten die vermeintliche Gefahr.
Was wir dann sahen, ließ Freya und mich gleichzeitig nach Luft schnappen. Unser Zusammenfahren übertrug sich auf die Pferde, die ebenfalls zuckten und mit den Köpfen schlugen. Ich ließ die Zügel nur stehen und setzte mich so schwer in den Sattel, wie ich es bei der Aufregung vermochte, damit Stine nicht rückwärts ausscheren und mit mir davonjagen konnte. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie auch Freya mit ihrem Lengo zu kämpfen hatte.
Mitten auf einer kleinen Lichtung stand der Neue von der Bushaltestelle mit freiem Oberkörper. Er trug lediglich eine schwarze Jeans und Turnschuhe. Was uns am meisten verblüffte, war jedoch, was er tat: Er hielt in jeder Hand eine Art Gummiband mit einem Griff, an dessen Ende ein Tennisball mit einem angehefteten Tuch befestigt war. Die Bälle wirbelten anmutig vor seiner Brust und über seinem Kopf, hinter seinem Rücken und um seine Beine herum, ohne sich zu berühren.
Wir hätten mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass dieser dunkle Neue einer so harmlosen Beschäftigung nachging. Ich hätte mir eher vorgestellt, ihn mitten im Wald über ein armes totes Reh gebeugt zu erwischen.
„Hallo ihr beiden.“ Er kicherte, wahrscheinlich darüber, dass wir unsere Pferde nicht im Griff hatten. Seine Augen folgten den fliegenden Bällen.
„Hallo- äh-“
„Sobek.“
„Äh, also, ich bin Kora. Und das ist- äh- Freya.“ Wir sahen ihn wohl ziemlich dämlich an, denn er lachte leise.
„Ähm- Sobek ist aber nicht dein richtiger Name?“
„Nicht wirklich. Wenn du dich entwickelst, solltest du den Namen finden, der zu dir passt, oder?“ Das war nicht unbedingt die Antwort, die ich erwartet hatte.
„Und dein Nachname?“
„Seid ihr nicht erst einmal dran?“ Natürlich hatte er Recht, aber ich hatte das Gefühl, dass er uns eher Auskunft schuldig war als wir ihm, so merkwürdig wie er sich kleidete und benahm.
„Ich bin Kora Heller und das ist Freya Gemin. Und du?“
Er seufzte. „Meine Familie heißt Schulze.“ Man konnte ihm ansehen, dass ihm dieser Name fast körperliche Schmerzen bereitete. Ich konnte mein Grinsen nicht verbergen und war erstaunt, dass er zurückgrinste und die Augen verdrehte. Ein Teufelsanbeter mit Humor war etwas Neues.
„Ihr seid in das Haus meiner Großmutter eingezogen.“ Jetzt hielt er die fliegenden Bälle geschickt an, indem er mit schnellem Kreisen der Hände die Gummibänder um seine Handgelenke wickeln ließ. Mit einem Tennisball in jeder Hand blickte er mich an und zog die Augenbrauen erstaunt hoch.
„Ich dachte, du wohnst im Steinweg.“ Er schien nachzudenken und sah mich dann ernst an: „Das mit deiner Großmutter tut mir Leid.“
Erst verstand ich nicht, was er meinte. Dann musste ich lachen.
„Meine Oma erfreut sich relativ guter Gesundheit. Sie wohnt jetzt bei uns.“
Er blickte erleichtert: „Dann ist ja gut.“
Ich druckste ein wenig herum und wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
„Ihr habt viel umgebaut, habe ich an der Bushaltestelle gehört.“
„Soso, an der Bushaltestelle.“ Er sah mich belustigt an, wurde dann aber wieder verbindlich. „Dann möchtest du deiner Großmutter vielleicht gern erzählen, was sich alles verändert hat?“
Das Angebot kam so plötzlich und war so verlockend. Ich stellte mir vor, dass Liese sich zwar nicht die Finger nach solchen Neuigkeiten lecken würde. Aber ich musste zugeben, dass ich selbst vor Neugier brannte, dieses Haus, in dem ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, wiederzusehen.
„Das wäre wirklich toll. Aber...“
„Man geht nicht zu Metlern nach Hause?“
„Das eigentlich weniger, -“, ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, ohne dass es unhöflich klang, also zog ich mich mit einer kleinen Flunkerei aus der Bredouille: „Aber ist es denn deinen Eltern recht?“
Er blinzelte mich entrüstet an. „Schwache Ausrede.“
Ich wollte nicht so intolerant erscheinen und wagte den Angriff nach vorn:
„Ich komme. Wann denn?“
Er schmunzelte. „Wenn du keine Angst vor dem Weg im Dunkeln zurück hast, kannst du ja gleich heute kommen. Und du bist natürlich auch herzlich eingeladen“, er wandte sich an Freya, „als moralischer Beistand.“ Er zog die Luft beim Lachen ein, als sei das ein besonders guter Witz gewesen.
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