1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 „Du bist aber ein Pflegefall, Liese,“ unterbrach ich sie.
„- und dann ausziehen!“
„Das war dir aber nicht peinlich.“
„Nein, i wo, aber davor kann man sich ja erst mal in Ruhe unterhalten.“
Ich prustete los. Liese war unvergleichlich. Von Oma keine Spur. Mit achtzig war sie um Längen selbstbewusster, als ich es je sein würde.
Jetzt erschien Liese die Gelegenheit anscheinend günstig zuzuschlagen.
„Und du?“ Je kürzer die Frage, desto länger die Antwort, die erwartet wurde. Das kannte ich schon.
Vor meinen Augen erschienen wieder die Bilder der vorletzten Nacht, ich sah das gleißende Licht der Scheinwerfer, hörte die Stimme der Polizistin und sah den durchsiebten Mercedes vor mir.
„Mhhh?“ Liese legte den Kopf schief und blinzelte mich aus wachen kleinen Augen an.
„Wir waren auf der Reeperbahn.“
„Weiß ich.“
„Und im Restaurant „Hafen Hamburg“.“
„Weiß ich auch.“
„Auf dem Rückweg haben wir zwei zerstörte Wagen gesehen, die bei einer Schießerei verschrottet worden sind“, begann ich, „und ich glaube, ich habe das eine Auto schon einmal gesehen.“ Liese blieb ausdruckslos und schien zu warten. „Einmal stand es vor meiner Schule und ein anderes Mal vor dem Planetarium.“
„Hast du das Gefühl, dass dir jemand folgt?“
„Ich wüsste nicht, warum.“
„Sei vorsichtig, Kora.“
„Das versuche ich. Aber ich wüsste nicht, wovor.“ Meine Oma schloss seufzend die Augen und beendete so das Gespräch, nicht ohne mich mit dem Gefühl zu hinterlassen, sie wüsste mehr und machte sich berechtigte Sorgen.
Schon vor der U- Bahnhaltestelle war die Straße zum Planetarium hin zugeparkt, obwohl ich bereits am späten Nachmittag eintraf. Georg hatte mir am Donnerstag eine Ansteckplakette mit der Aufschrift „Planetarium Hamburg- Kora Elisabeth Heller“ gegeben, die mir ermöglichen sollte, durch die Absperrungen, Sicherheitskontrollen und Menschenmengen zur Sternwarte zu gelangen. Das war bitter nötig, denn selbst der Wald um die Anlage herum war voller Partyzelte, Imbissbuden und Übertragungsanlagen für Radio und Fernsehen, während der lange doppelte Kiesweg durch Sperrgitter freigehalten wurde. Auf dem breiten Rasenstreifen zwischen Kies und Waldrand drängten sich Kamerawagen und die ersten Schaulustigen, die ihr Campinggeschirr mitgebracht hatten, aßen und tranken im Gras. Auf dem Platz vor dem großen Brunnen war eine Bühne aufgebaut, auf die sich die Kameras richteten und in ihrer Mitte stand eine brusthohe Säule. Mich wunderte die große Zahl der Polizeiwagen auf dem Gelände. Polizisten sah ich nicht.
Unter ständigem Vorzeigen meiner Plakette kämpfte ich mich vor bis zu Georgs Büro und klopfte kräftig an, um in dem Lärm überhaupt gehört zu werden. Ein Polizist öffnete, sah auf meine Plakette und zog mich in das Büro hinein. Am Schreibtisch saß Georg, totenblass und mit Schweißperlen auf der Stirn. Er wirkte so entsetzt, dass ich mich nicht traute, irgend etwas zu sagen.
„Es muss alles so ablaufen wie geplant“, stieß Georg hervor.
Ohne anzuklopfen trat ein grauhaariger Mann im schwarzen Anzug herein. Der Polizist und zwei Kollegen, die an der Seite des Büros vor dem großen Aktenschrank standen, nickten ihm kurz zu.
„Seit wann fehlt der Schädel?“ Der Mann sprach fest und autoritär, aber auch er war nervös.
Georg holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. „Vielleicht haben sie ihn schon im Museum für Hamburgische Geschichte ausgetauscht. Als ich ihn in die Hand nahm, bemerkte ich es sofort. Dieser ist deutlich leichter.“ Georg drehte sich mit dem Stuhl und hob einen Schädel aus einer Kiste.
„Die Markierungen sind exakt kopiert. Das waren Profis.“ In Georgs Stimme schwang Anerkennung mit. Dann wurde er wütend: „Warum haben wir ihn auch diesen Stümpern vom Museum für Hamburgische Geschichte überlassen! Die haben sich doch auf fast dieselbe Weise den Schädel von Störtebeker klauen lassen: keine Schäden, keine Spuren!“ Rot wie ein Radieschen ging Georg zu gurgelndem Röcheln über, als er beschloss: „Um die Öffentlichkeit nicht zu enttäuschen, sollten wir alles durchziehen wie geplant. Erst die Show im Planetarium, dann den Empfang und bei Dunkelheit die Vorführung auf der Bühne.“
Nachdenklich sah der Grauhaarige über Georgs Kopf hinaus aus dem Fenster. „Wahrscheinlich ist das das Beste“, sagte er versonnen. „Wir erstatten Anzeige wegen Diebstahls“, wandte er sich an die Polizisten. „Der Schädel ist von unschätzbarem Wert nur für die prähistorische Forschung, nicht für Privatpersonen, da er unverkäuflich sein wird. Zwar ist er im Gegensatz zum entwendeten Schädel des berühmten Piraten gut versichert, aber als Beweis für den Stand der steinzeitlichen Astronomie unersetzlich.“
„Wir haben schon alles aufgenommen“, sagte der Polizist, der mich hereingelassen hatte. „Jetzt beginnen wir mit den Befragungen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Um Himmels willen, machen Sie keinen Aufstand!“, beschwor ihn Georg, „Hier darf niemand mitbekommen, was geschehen ist!“ Dabei fiel sein Blick auf mich.
„Kora, was machst du denn hier?“ Ich wollte gerade antworten, da schnitt er mir das Wort ab: „Na, egal, du darfst niemandem ein Sterbenswörtchen verraten, hörst du?“ Wie um sich selbst zu ermutigen, versprach er: „Wir finden die Diebe und holen uns den Schädel wieder.“
Der Polizist begleitete mich aus dem Gebäude hinaus. Bis zur Vorführung um acht Uhr hatte ich noch Zeit genug, das Gelände zu inspizieren. Als ich mir gerade ein Würstchen an einer der zahlreichen Buden holen wollte, sprach mich eine stark geschminkte, elegante Frau an: „Entschuldigen Sie, Sie sind vom Planetarium, wie ich sehe. Würden Sie uns ein paar Fragen beantworten?“ Als ich mich umdrehte, hatte ich schon ein Mikrofon im Gesicht. „Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“ Völlig überrumpelt fiel mir nicht ein zu sagen, dass ich nur zum Kartenabreißen hier war, sondern ich nuschelte: „Kora Elisabeth Heller.“
„Weißabgleich!“, rief eine junge Frau, „Fertig!“
Die elegante Frau drehte sich in eine Kamera, die ein dicker kleiner Mann geschultert hatte. Als eine grüne Lampe aufleuchtete, begann sie zu sprechen: „Hamburg live, Selina Saums, guten Tag. Wir befinden uns vor der Anlage der Hamburger Sternwarte, wo bei Einbruch der Dunkelheit ein uraltes magisches Ritual nachgestellt werden soll, um die Funktion des Ahrensburger Totenschädels zu erläutern. Diesen hat ein tapferer Jugendlicher einer Gruppe von Teufelsanbetern entrissen, die in der Stunde der Tag- und Nachtgleiche im Herbst zweitausendundneun eben dieses Ritual zelebrierten. Etwa dreizehntausend Jahre lag dieser mit Kreisen, Gestirnen und magischen Zeichen beschriebene Schädel im konservierenden ehemaligen Toteisboden, bis ihn die Satanisten ausgruben. Der tapfere Entdecker musste seinen Mut fast mit dem Leben bezahlen. Nach zahlreichen Drohungen entging er im letzten Monat nur knapp einem Entführungsversuch.“
Plötzlich schwenkte Selina Saums zu mir und fragte: „Frau Heller von der Sternwarte Hamburg, was ist an diesem Schädel eigentlich so interessant?“ Mir schoss das Blut ins Gesicht und ich bekam keine Luft. In meinem Hals schwoll ein Kloß und ich versuchte fieberhaft mich zu erinnern, was ich in der Show gesehen hatte.
„Nun, ähh-“, - mein Herz wollte aus dem engen Käfig heraus-, „der Schädel war so etwas wie eine Sternenkarte“, murmelte ich. Frau Saums drückte mir das Mikrophon fast in den Mund und nickte ungeduldig. „Wenn er auf einen Pfahl gesteckt wurde, konnte man ihn an der auf- oder untergehenden Sonne ausrichten und wusste dann, wo die Himmelsrichtungen waren.“ Selinas Gesicht entspannte sich. Sie lächelte und wartete. Langsam kamen ein paar Bilder in mir hoch. „Außerdem halfen die Markierungen, das Mond- und das Sonnenjahr aufeinander abzustimmen“, fügte ich hinzu, „und es gibt noch viele eingeritzte Zeichen, deren Bedeutungen unbekannt sind.“
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