„Hört auf!“ Mit einem Mal sprang ein Mann in schwarzer Lederkleidung auf den Stern zu, zerriss die Bänder und zog den Schädel von dem Pfahl in der Mitte herunter. Sofort verstreute sich der Strom der Sternschnuppen. Ich registrierte, dass auch das Ziehen in meinem Inneren aufhörte.
Was die Kapuzenmänner betraf, hätte das Erscheinen des leibhaftigen Teufels keine heftigere Abscheu auslösen können. Sie griffen in ihre Gewänder und Apophis förderte mit der linken, unversehrten Hand ein kurzes Gewehr mit einem seltsam durchlöcherten äußeren Lauf hervor.
„Das würde ich bleiben lassen“, sagte der Neue auffallend lässig, „So etwas rächt sich- später.“
Der Bärtige starrte ihn an wie ein wütender Hund, den nur das Zwingergitter daran hinderte, ihn zu zerreißen. Dennoch blieb er stehen und spuckte dem Dunklen hasserfüllt entgegen: „Du wirst sterben, Osiris.“
„Apophis“, sagte der Neue zugleich wachsam und nach außen hin gelangweit wie ein Lehrer, der seinen Schüler tadelt, „mich zu töten steht nicht in deiner Macht, wenngleich du sicher nichts lieber tätest.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er sich überlegen fühlte und ihn dies amüsierte.
Seth, der mich gefragt hatte, ob ich laufen könne, versuchte mich loszuknoten, doch das registrierte ich kaum. Gebannt starrte ich auf den unbewaffneten jungen Mann, dessen Wirkung auf die Satanisten ich mir nicht erklären konnte. Gelassen stand er neben dem Pfahl, hielt den Schädel hoch und fixierte die Kapuzenheinis. Angesichts ihrer Furcht vor dem Schwarzhaarigen mit dem jugendlichen Drei-Tage- Bart fiel mir ein Liedtext ein: I‘ ve got the devil on my shoulder. Jedenfalls konnte er glatt für einen Boten aus der Unterwelt durchgehen, so dunkel war sein Auftritt.
Wenn dieser Typ selbst den Satanisten Angst machte, war sein Erscheinen vielleicht gut für mich. Während ich ihn anstarrte, kam er mir plötzlich bekannt vor. Aber ich war zu verwirrt darüber nachzudenken.
Inzwischen hatte Seth mich losgebunden und legte mich über die Schulter. Der Schwarze hatte das bemerkt, aber auch die Männer in den roten Umhängen. Bevor sie auf uns zustürzen konnten, warf Osiris den Schädel auf die Erde und zertrat ihn mit dem Fuß, woraufhin die Roten aufschrien.
Seths breite Schulter drückte in meinen Bauch, als er mit mir loslief. In Filmen sieht es meist recht bequem aus, wenn jemand so getragen wird, aber in Wirklichkeit schmerzte jeder Schritt, besonders weil ich mich noch nicht an Seth festhalten konnte. „Ich kann nicht mehr“, jammerte ich schon bald und wünschte, er würde darauf Rücksicht nehmen. „Nur noch ein paar Meter“, keuchte Seth und lief ungerührt weiter. Gerade als mit einem Prickeln das Gefühl in meinen Armen und Beinen wiederkam, legte er mich unsanft ab und ich landete auf harten Ästen. Dennoch brachte ich ein „Danke“ hervor, schließlich hatte er mich vor den Irren mit dem Gewehr gerettet. Seth war schon aufgestanden und sprang über einen Baumstamm. „Ich sehe, ob die Luft rein ist“, rief er im Gehen und es wurde ruhig.
Neben mir raschelte es leise im Unterholz und die Angst, die ich die ganze Zeit verdrängt hatte, leckte kalt über meine Haut. Mit mir waren Dinge geschehen, die in Hamburg, dieser rationalen, organisierten Stadt, nicht passieren. In meiner Welt gab es so etwas nicht, weder wurden Leute wie ich einfach entführt noch nachts auf Lichtungen aufgehängt noch geopfert.
Mit meinen Gedanken kam ich nicht weit. Seth war eine kurze Zeit fort, als ein lauter Knall die Stille zerriss. Dann herrschte Stille und ich fürchtete, dass mich die Verrückten in den roten Umhängen schon suchten. „Was war das?“, fragte ich Seth, als er wiederkam und mir aufhalf. „Was war was?“ Er hatte nichts gehört. Während wir durch taufeuchtes Gras staksten, lauschte ich in die vereinzelten Büsche und den hinter uns liegenden lockeren Auwald hinein. Niemand folgte uns, bis wir eine Fußgängerbrücke über eine Bahnlinie passierten. Schließlich tauchten wir zwischen einem Parkplatz und einem Schnellrestaurant wieder in der Realität auf. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das Rauschen von Autoreifen auf Asphalt oder das Anfahren einer U- Bahn in einem nahen Bahnhof jemals so beruhigen würden. Seth stützte mich und führte mich zu einem flachen, roten Wagen. Die Türen gingen nach oben auf und standen hoch wie Flügel eines Vogels, der seine Küken unter die Fittiche nimmt.
Ich ließ mich in den harten, eng anliegenden Sitz fallen, zu müde, um mich anzuschnallen. „Wohin möchtest du?“, fragte Seth. „Zur Polizei natürlich“, sagte ich müde. Was ich erlebt hatte, war eindeutig ein Verbrechen. Seth verzog das Gesicht. „Dahin werde ich dich nicht fahren, da musst du schon selbst laufen. Aber ich könnte dich nach Hause fahren.“ Ich nickte erschöpft und wunderte mich nicht, dass er den Weg kannte. „Wer bist du? Und was sind das für Leute?“ Ich fand, ich hatte ein Recht, das von ihm zu erfahren.
„Ich bin Hein und komme aus Birka bei Stockholm, aber die Sethis halten mich für ihre auferstehende Gottheit.“
„Du meinst Hein- wie Gevatter Hein?“
Seth entblößte große, unregelmäßige Zähne und nickte. „Aber ich bin ganz normal, nur die sind es nicht.“ Eine Weile schwiegen wir, als der Wagen geräuschvoll eine Allee mit Buckelpflaster entlangdonnerte.
„Sie haben mich im letzten Sommer mit ziemlich wertvollen Argumenten dazu überredet, ihr merkwürdiges Spiel mitzuspielen.“ Gedankenverloren strich er über die gemusterte Verkleidung des kleinen Lenkrads und die Armaturen des schönen Wagens, in die Embleme mit einem goldenen Stier eingelassen waren.
„Und jetzt haben sie wohl alles verloren“, fuhr er fort. „Hätte Osiris nicht dazwischengefunkt, wären sie am Ziel ihrer Träume.“ Anerkennend fügte er hinzu: „Die werden ganz schön sauer sein.“
„Der dunkle Mann- war das Osiris?“, fragte ich. „Jep“, nickte er, „ihr ärgster Feind. Wenn man den Sethis glaubt, ist er – oder das, was aus ihm werden soll- Schuld am Elend der Welt.“
„Warum hast du mich vor deinen eigenen Leuten gerettet? Und was machen die jetzt mit ihm? Und wie soll etwas aus euch werden- und was habe ich damit zu tun?“ Ich verstand die Welt nicht mehr.
Seth lachte. „Soll ich alle Fragen gleichzeitig beantworten? Nun, ich habe dir geholfen, weil das Spinner sind. Die glauben an Sachen, die sich das kränkste Hirn nicht ausdenken würde. Sie bezahlen mich fürstlich und deshalb habe ich mitgemacht, aber das ist jetzt wohl vorbei, wo die Inkarnation gescheitert ist.“
„Die was?“ Von dem Theater der zehn Männer in den roten Umhängen hatte ich nicht viel begriffen.
„Sie glauben, dass genau in dieser Nacht und dort, wo sie dich angebunden hatten, die altägyptischen Göttergeschwister in vorbestimmte Körper hineinfahren.“ Er schnaubte abfällig. „Die hatten sozusagen noch eine Rechnung offen, weil da nach ihrer Ansicht eine Riesenschweinerei gelaufen ist. Und dies sollte die zweite Chance sein, die Sache zu klären.“
Während Seth- oder Hein- redete, wurde mir langsam, aber stetig übel. Eine kalte Welle stieg in mir auf und ich bekam kaum Luft. Ich konnte nichts mehr sehen und fing an zu zittern. „Wir sind da“, sagte Seth, „he, was ist?“ Er sprang aus dem Wagen und löste von meiner Seite aus den Sicherheitsgurt. „Du bist ja eiskalt. Komm.“ Irgendwie bekam er mich aus dem tiefen Sitz heraus und trug mich zur Eingangstür. „Wo ist der Schüssel?“ Ich zeigte hoch zum offenen Fenster meines Zimmers und im nächsten Moment stieg er mit mir über der Schulter die steile Leiter hinauf. Mir war alles egal, ich wollte nur noch ins Bett. Seth deckte mich zu und legte mir ein Kissen unter die Knie. „Du hast wohl einen Schock, kein Wunder. Schlaf erst einmal.“
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