Ihr drahtiger Vater Hans schloss den Wagen ab und klopfte mir lachend auf die Schulter. „Sag bloß, so, wie du fährst, fällt die Handtasche nicht herunter!“
Gaby, Freyas Mutter, nahm mich in den Arm: „Schade, dass wir gerade beim Brunch waren, sonst hätte ich dich gern zum Mittag eingeladen.“
Freya zog mich hoch in ihr Zimmer. „Du siehst aus, als wäre das passiert, was ich heute Nacht von dir geträumt habe.“ „Was hast du denn geträumt?“, fragte ich alarmiert. „Wie beim letzten Mal stehst du am Rande einer riesigen Grube und springst hinein. Ich habe sofort das Gefühl, dich zu verlieren und ein schlimmes, schlechtes Gewissen.“ Erleichtert atmete ich aus. „Das hat wohl nichts zu bedeuten. Geht es dir sonst gut? Ist nichts Aufregendes passiert?“ Freya besah ihre Hände und grinste. „Nein, alles noch dran. Lass uns hochgehen!“
Der Flur der Familie zeugte von der gemeinsamen Leidenschaft Hans und Gaby Gemins, denn die Wände waren bedeckt mit eingerahmten ägyptischen Papyri und Setzkästen mit Skarabäen, Anch- Zeichen und kleinen Figuren, die Uschebtis hießen. Sogar eine winzige Mumie eines Katzenbabys lag in einem der Fächer.
Freyas Eltern hatten sich in Ägypten bei Ausgrabungen kennen gelernt und konnten Hieroglyphen und deren Folgeschriften desmotisch und hieratisch lesen wie ich die Zeitung.
Sie führte mich die Treppe hoch und zog mich auf ihr Sofa. „Es hat doch sicher einen Grund, warum du ausgesehen hast, als wäre der Leibhaftige hinter dir her gewesen. Erzähle!“ Diese direkte Art liebte ich an ihr. Mit Freya konnte ich stundenlang quatschen, aber wenn es um etwas Wichtiges ging, war sie sofort bei der Sache. So gut ich konnte, fasste ich den Sonnabend zusammen. Freya prustete los, als sie hörte, dass ich im Fernsehen als Mitarbeiterin des Planetariums durchgegangen war, wurde aber sofort ernst bei meiner Schilderung der Rituale im Tunneltal. Ich weiß nicht, warum ich ihr verschwieg, dass Seth mich nachts angefasst hatte. Sie war immer stiller geworden und drehte die verfilzten Enden ihres Freundschaftsbandes.
Irgendwann sagte sie nachdenklich: „Weißt du, was daran nicht stimmt?“ Ich verstand sie nicht. „Natürlich, die sind alle verrückt!“
Freya schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Was nicht passt, ist, dass sie uns ausgesucht haben. Und dass wir das gefühlt haben. Lass die Sethis Verschwörungstheorien erfinden, wie sie wollen, aber dass du und ich am selben Tag zur selben Zeit zusammengeklappt sind, das macht mir Angst.“
Wir brüteten vor uns hin, bis Freya eine Idee hatte: „Erzähl doch mal genau, was dieser Schädel bewirken soll.“ Ich konnte ihr kaum mehr sagen als der Fernsehtante. Während ich meine Erinnerungen sortierte, schaltete Freya ihren Laptop ein, lud sich ein Sternbildprogramm herunter und begann zu surfen.
„Du hast gesagt, es habe Sternschnuppen nur so geschneit?“, fragte sie, „Kein Wunder, genau in diesen Tagen regnen zwei Ströme von Sternschnuppen auf Deutschland, Tau Cetiden und Bootiden. Und am Montag war Sonnenwende- Oh!“ Sie japste nach Luft. „Hast du nicht gesagt, du bist vor zwei Uhr zusammengeklappt?“ Ich nickte. „Und ich auch, kurz vor halb zwei. Und stell dir vor: Genau um dreizehn Uhr achtundzwanzig war die Sommersonnenwende!“
Dazu fiel mir nichts mehr ein. Freya surfte weiter. In meinen Ohren hallten die Namen der Sternschnuppenströme, bis ich mich erinnerte. „Sie haben gestern Nacht die beiden Namen erwähnt. Und gesagt, dass Seth herrschen wird und sich alles umdreht, das Unrecht mit Horus- Ojeh, was sind das alles für Namen!“ Freya schwang auf ihrem Stuhl herum. „Das sind ägyptische Gottesnamen“, sagte sie, „Seth, der Gott des Chaos und der Wüste, war der Bruder von Osiris, dem Gott der Zivilisation. Seth tötete Osiris aus Neid und mit Osiris als Herrn entstand das Jenseits. Horus, der Sohn von Osiris und Isis, rächte seinen Vater vor dem Gericht der Götter und herrschte über ganz Ägypten.“
Sie blickte auf den Fußboden und knetete die Unterlippe. „Die glauben doch unmöglich, dass sie diese alten Mythen aufleben lassen können. Meine Eltern sagen immer, dass wir nicht einmal erahnen können, wie die alten Ägypter wirklich gedacht haben. Alles, was von ihnen übrig ist, steckt in Steinen und Grabbeigaben- und vielleicht im Christentum.“
„Wie das?“ Ich war es schon gewohnt, Freya als mein Lexikon auf Beinen zu betrachten. Sie saugte Informationen aus dem Internet wie ein Staubsauger. Im Gegensatz zu mir behielt sie sie auch.
„Die Römer hatten Ägypten erobert und dort gewohnt. Sie waren immer neugierig auf die Kultur, die sie erobert hatten und fanden es schick, ihre Toten in Ägypten als Mumien in Gräbern nach ägyptischer Art zu bestatten. Vom ägyptischen Glauben nahmen sie viele Elemente zurück nach Rom, wo die ersten Christen diese Einflüsse in ihre junge Religion aufnahmen. Und es gab auch schon ganz früh Christen in Ägypten, die Kopten, die natürlich ägyptische Wurzeln hatten. Oh, sieh mal hier, die Römer haben den Isisglauben sogar bis nach Mainz getragen. Dort hat man unter einem Einkaufszentrum ein Isisheiligtum freigelegt.“
Ich fand, dass mich das nicht gerade weiter brachte und gab Freya die Handynummer der Polizistin.
Bevor es ganz dunkel wurde, machte ich mich auf den Weg nach Hause, wo Oma Liese auf mich gewartet hatte. Wie immer, wenn sie sich eigentlich um mich sorgte, plauderte sie über harmlose Nebensächlichkeiten und wartete auf meine Reaktion. Diesmal tat ich ihr nicht den Gefallen, alles noch einmal zu erzählen und verabschiedete mich müde Richtung Badezimmer. Doch als ich an ihr vorbeikam, nahm sie mich bei der Hand und sagte eindringlich: „Kora, ich habe dich sehr lieb. Bitte pass auf dich auf- und folge deinem Herzen.“ Solche Worte waren für meine coole Oma ungewöhnlich und ich wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte. Ich putzte mir die Zähne und ging die Treppe hoch in mein Zimmer.
Als ich gerade das Licht einschalten wollte, passierten zwei Dinge gleichzeitig. Ich nahm beide parallel deutlich wahr, wie in Zeitlupe bei einem geteilten Bildschirm. Beides traf in meinem Gehirn zugleich ein und ich hätte nicht sagen können, was zuerst gewesen war. Ich hörte ein besonders sanft gesprochenes „Bitte erschrick nicht“ im selben Moment, in dem mein Blut sich vor Schreck in der Magengrube versammelte. Ein Arm war da und hielt mich, bevor ich strauchelte.
Ich hasste es, erschreckt zu werden, obwohl ich selten Angst hatte. Wenn mir so sehr das Herz schlug wie in diesem Moment, war Ärger meist die nächste Reaktion, und so war es auch diesmal. Wütend riss ich mich los, stieß den Besitzer des Armes fort und schaltete das Licht an. Dann erstarrte ich und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Vor mir krümmte sich der Dunkle, der den Sethis auf der Lichtung die Tour vermasselt hatte, mit schmerzverzerrtem Gesicht und hielt sich die Schulter. Er blinzelte ins Licht des Deckenfluters und richtete sich ächzend auf. Als sich unsere Blicke trafen, geschah nichts, einfach gar nichts, außer dass sein Arm schlaff herunterfiel und wir uns beide ansahen.
Eigentlich verfügt jeder Mensch über die bemerkenswerte Fähigkeit, Gesichter sofort zu erfassen und zu entscheiden, ob er jemanden mag oder nicht. In etwa vier Sekunden schätzt jeder den anderen als abstoßend, sympathisch oder aufregend ein, je nachdem, was einem wichtig ist. Dabei erkennt man kleinste Abweichungen von der Symmetrie und von den üblichen Entfernungen von Augen, Nase und Mund und fällt ein Urteil über den Menschen, das später nur schwer wieder zu ändern ist.
Das war hier anders.
Ich brauchte ihn nicht abzuschätzen. Tief in meinem Inneren hatte etwas bereits entschieden, dass er mir vertraut war, so sehr es mich auch überraschte. Die schwarzen, kurzen Haare, der beginnende Bartwuchs und die feinen, schwarzen Brauen machten ihn wirklich dunkel, zumal er seine Augenränder anscheinend schwarz nachgezeichnet hatte, und aus diesem dunklen Gesicht brannten sich türkisfarbene Augen unnatürlich hell in meine.
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