Seine Nase war gerade und fein, die Nasenflügel schmal, und unterhalb der Nase verliefen zwei ausgeprägte Linien bis zu den Lippen. Ihr feiner Schwung verstärkte seine Mimik und verriet, was er fühlte: Erstaunen. Er blieb wie ich im Pausenmodus wie ein Standbild. Als ich merkte, dass mein Mund offen stand, klappte ich ihn zu und meine Zähne schnappten mit einem „Klack!“ zusammen.
„Das Fenster war offen“, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich bin Osiris.“
„Ich bin Kora“, sagte ich, weil mir nichts besseres einfiel, obwohl ich mir denken konnte, dass ihm das nicht neu war. Seine Lippen kräuselten sich und er sah spöttisch an mir herunter, als wisse er es besser, aber er sagte nichts dazu. Dann sah er mich vorwurfsvoll an: „Tut mir Leid, dass wir dir nicht rechtzeitig geholfen haben. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du noch nichts drauf hast. Hast du dich überhaupt gewehrt?“
„Ich verstehe gar nichts“, sagte ich frustriert und fand, er dürfe gern von vorne erzählen.
„Hat dir noch nie jemand gesagt, wer du bist?“, fragte er ungläubig und strich über die Striemen an meinem linken Handgelenk, die die Seile hinterlassen hatten.
Man fasst mich nicht einfach an. Seths Annäherungsversuche waren mir noch lebhaft in Erinnerung. Ich zog meine Arme zurück und verschränkte sie als Bollwerk vor meiner Brust.
„Natürlich weiß ich, wer ich bin. Aber was hat das mit dem zu tun, was mir passiert ist?“ Osiris deutete auf meinen Sessel und ich setzte mich, bereit, sofort wieder aufzuspringen. Dann nahm er auf der Kante meines Schlafsofas Platz. „Du musst lernen, Freund und Feind zu unterscheiden, damit du dir nicht beim Rollerfahren den Hals brichst“, begann er und grinste. Ich fühlte, wie sich meine Unterlippe hervorschob.
„He, das war ein Scherz“, sagte er und boxte mich gegen die Schulter. Wieder so ein Übergriff.
„Verschwinde, wenn du nur kluge Ratschläge ablassen willst“, sagte ich beleidigt und wollte aufstehen.
Da wurde er ernst, soweit er das überhaupt konnte.
„Erst, wenn du Bescheid weißt“, bestimmte er, sprang auf und begann vor mir auf und ab zu gehen, nicht ohne sich mit schnellen Seitenblicken zu vergewissern, dass ich sitzen blieb und ihm zuhörte. „Du und ich, wir sind am selben Tag geboren, zur Sommersonnenwende vor achtzehn Jahren, genau um zwölf Uhr, im Tierkreiszeichen Jungfrau. Wichtiger ist jedoch, wann wir gezeugt worden sind, in der herbstlichen Tag- und- Nacht- Gleiche bei Vollmond. Wir haben den Untergang unserer Sternenbilder, des Orion und des großen Hundes, und das Schwinden und Wiedererstarken des Sonnenlichts durchlebt, bevor wir geboren wurden.“
Allmählich nervte mich sein Herumtigern. Da setzte er sich direkt vor mir auf den Hocker. „Und das bestimmt unser Schicksal.“
„Ich glaube nicht an Astrologie“, sagte ich und erinnerte mich daran, dass ich das vor ein paar Tagen schon einmal Georg erklärt hatte. Die harmlose Normalität des Planetariumbetriebs schien endlos lange her zu sein. Mir fiel auf, dass Osiris mit dem linken Bein auf dem Fußballen wippte, so schnell, dass es mich nervös machte.
„Mit Astrologie hat das auch nichts zu tun“, entgegnete Osiris mit zappelndem Knie, „sondern mit genauer Zeitmessung. Astrologie ist Aberglaube. Natürlich sind die Gestirne Planeten im All. Zugleich sind sie aufgrund der Regelmäßigkeit ihrer Bahnen Erinnerungshilfen aus Zeiten, in denen die Mythen von Göttern und Sagen von Königen durch die Beschreibung ihrer Konstellationen überliefert wurden. Indem die Menschen die Sterne ansahen, erkannten und erinnerten sie Götter und Könige, vergaßen sie nicht und gaben ihnen so ein zweites Leben in ihrer Erinnerung. Darum erhielten die Gestirne, Sternbilder und Tierkreiszeichen Namen, die wichtiges Wissen verschlüsselten.“
„Die Macht der Sterne“, zitierte ich Georg vom Planetarium.
„Macht besitzen die Sterne nur, indem Menschen in sie Bedeutung hineinlegen“, sagte Osiris, während er auf meinem Hocker zappelte und das, was er sagte, mit lebhaften Gesten unterstrich, „und andere Menschen ihnen dieselbe Bedeutung wieder entnehmen. Wenn die Sprache der Sterne verloren geht, sind die Sterne selbst bedeutungslos.“
„Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Ich fand, er könne so langsam auf den Punkt kommen, obwohl mir nicht langweilig war- dazu sah er zu gut aus. Was er erzählte, war mir nicht so wichtig.
„Unserer beider Lebensdaten sind Koordinaten in einem vorherbestimmten Zeitraster. Was am Sonnabend geschehen ist, war unvermeidbar, weil es Menschen gibt wie die Sethis und meine Leute, die das Wissen um die Bedeutung dieses Zeitpunktes kennen und danach handeln. Dieses Wissen steckt zum Beispiel im Ahrensburger Schädel. Aber auch andere Orte und Gegenstände überliefern das Wissen um die Wiedervereinigung der Kinder von Geb und Nut, von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, von Mondjahr und Sonnenjahr, von Mann und Frau. Dies ist eine Chance zur Versöhnung, die nur zu bestimmten Zeiten besteht oder wenn die Welt dies braucht.“
Dass ich nickte, hatte nichts damit zu tun, dass ich begriffen hätte. Es kam mir nur bekannt vor, dass man mit der Himmelsscheibe von Nebra das Mond- und das Sonnenjahr aufeinander abstimmen konnte. Außerdem steckte mich sein ständiges Gewippe inzwischen an und ich fühlte mich wie ein Wackeldackel.
„Was weißt du über die Kinder von Geb und Nut?“, fragte Osiris.
„Nichts.“ Inzwischen kam ich mir selbst dumm vor. Zugleich fragte ich mich, ob ich das wissen musste.
„Geb und Nut waren Himmel und Erde in der ägyptischen Mythologie“, dozierte Osiris mit leicht gereiztem Unterton, „und ihre Kinder waren Isis und Osiris, Nephtys und Seth, die ersten Götter, die unter den Menschen lebten oder die ersten Menschen, die vergöttert wurden.“
„Und du sollst Osiris sein“, sagte ich patzig, „der Sohn von Himmel und Erde.“ Es reichte. Ich hatte entschieden, dass ich fürs erste genug hatte von Dingen, die ich nicht kannte und die ganz offensichtlich nichts mit meiner Gegenwart zu tun hatten. Immer wenn ich wissen wollte, warum und was mir in der letzten Nacht zugestoßen war, bekam ich als Erklärung diesen alten Salat aus dem Altertum zu hören, von Freya ebenso wie von Osiris, der hoffentlich noch einen normalen Namen hatte. Ich stellte ganz einfache Fragen und bekam als Antwort diese Nebelwolken über ägyptische Götter vorgesetzt. Hinzu kam etwas, das ich vor mir selbst nicht zugeben wollte: Wäre er nicht verrückt, hätte ich begonnen mich in diesen Zappelphilip zu verlieben. Ich hätte wirklich gern ein paar normale Worte mit ihm gewechselt, anstatt zu Geb und Nut befragt zu werden.
„Es geschieht etwas mit uns, Kora, und du bist ein Teil des Ganzen, ein sehr wichtiges sogar. Wenn es stimmt, was meine Leute mir erzählt haben, müsstest du es bald selbst merken. Warte, lass es mich probieren.“ Er setzte sich auf. „Bitte gib mir deine Hand. Keine Angst, ich tue dir nichts.“ Ohne davon ganz überzeugt zu sein, reichte ich ihm meine Hand und er legte seine geöffnete Handfläche locker darunter. Mir fiel auf, dass seine Hände vibrierten wie zuvor seine Knie.
„Fühlst du etwas?“ Was für ein Spiel. Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als ich glaubte, doch etwas zu fühlen. Ich wartete noch ab, wie sich das Gefühl entwickeln würde, doch dann musste ich einsehen, dass ich mich geirrt hatte. Da war nichts.
Ich zog meine Hand zurück und sah ihn fragend an. Er lächelte jedoch befriedigt und schien sich zu freuen. „Ist etwas anders als vorher?“
Ich hatte keine Lust auf solche Spielchen, zumal ich merkte, dass es spät geworden und ich sehr müde war.
„Du bist müde.“
„Das ist ja kein Wunder.“
„Müder als vor unserer Berührung, meine ich.“
Читать дальше