Ich sah ihn ungläubig an. War er ein Spinner? Glaubte er an Reiki oder Hokuspokus? Ich hatte schon einmal einen Bekannten meiner Mutter bei ihr die Hand auflegen sehen. Seitdem war er bei mir unten durch. Ich hatte ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten.
Er nahm erneut meine Hand: „Achte einmal darauf.“
Wieder stützte seine Handfläche die meine. Diesmal stimmte es. Ich wurde müde, während ich seine Hand hielt, und zwar schnell.
Ich zog meine Hand zurück und sah ihn an.
„Du kannst heilen,“ sagte er triumphierend.
Also doch ein Wundergläubiger. Enttäuscht begann ich das nicht ganz so negative Bild, das ich mir gerade von ihm gemacht hatte, zu verwerfen. Schade. Ich hatte gerade beschlossen, ihm in einem gewissen Rahmen zu vertrauen und ihn wunderschön und geheimnisvoll gefunden. Bis jetzt.
„Schön wär‘s,“ gab ich sarkastisch zurück, „ich finde eher, ich kann schlafen.“ Ich entschied, dass er jetzt auch gehen könne. Demonstrativ ging ich zur Tür und öffnete sie.
„Nein, bitte, sieh doch, du kannst es!“, sagte er hastig, riss die Lederjacke auf und ließ sie fallen. Mich traf fast der Schlag, als ich seine sportlichen Oberarme sah. Mit seiner rechten Hand griff er in seinen Nacken und begann umständlich sein T- Shirt über den Kopf zu ziehen, während er sich umdrehte. Als er den linken Arm heben musste, ächzte er. Auf dem linken Schulterblatt klebte ein großes Pflaster, nach dem er mit der rechten Hand langte.
„Hilf mir mal, bitte.“
Ich zog das Pflaster an einer Ecke ab und er zuckte zusammen.
„Zieh es ab und leg‘ deine Hand darauf. Bitte!“
Vorsichtig legte ich eine kleine runde Wunde frei, die tief aussah und von einem schmalen Klammerpflaster verschlossen war. Der Rand stand etwas hoch. „Was ist denn das?“, erschrak ich.
„Ein Schuss von Apophis“, sagte er, „gleich nachdem Seth dich fortgetragen hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich trauen, mir etwas anzutun, zumal meine Leute ganz in der Nähe waren. Ich war schon fast aus dem Kreis heraus, als er hinter mir herschoss, dieses Miststück. Zum Glück hat er zu hoch getroffen.“
„Das war leichtsinnig, allein zwischen die Verrückten zu treten“, tadelte ich ihn.
„Eigentlich haben sie Angst vor Osiris und trauen sich nicht, ihm hier etwas anzutun“, sagte er, als spräche er von jemand anderem, „weil sie denken, er könnte sich dafür im Jenseits rächen.“
„Bist du nicht Osiris?“
„Irgendwie schon...“
„Aber?“
„Ich habe mir mein erstes Treffen mit dir anders vorgestellt. Und du bist auch...“
Bevor ich mir das zu Ende anhören musste, klatschte ich meine Hand auf das kleine Loch, was die gewünschte Wirkung hatte: Er hielt still.
Auf dem Weg in den Schlaf fühlte ich als letztes, wie er mich aufhob und auf das Sofa legte.
Montag, 28.6.2010
Als ich wieder erwachte, war es schon hell. Osiris saß auf der Sofalehne zu meinen Füßen und war bester Laune. Normalerweise war ich ein fürchterlicher Morgenmuffel und durfte besser niemandem begegnen, bevor ich nicht meine Morgenrituale hinter mich gebracht hatte. Jetzt setzte ich mich mühelos auf.
„Dann habe ich das gestern nicht geträumt“, schloss ich.
„Ich habe mir erlaubt hierzubleiben“, sagte er grinsend. „Du redest im Schlaf, Isis.“
Da fiel mir ein, dass ich ihn kurz vor seinem Striptease eigentlich hatte hinauswerfen wollen. Schön, dass er geblieben war.
„Wieso Isis?“
Er sah mich erstaunt an, dann nahm er meine Hände und fragte: „Das habe ich dir doch erklärt! Du bist Isis!“
Ich schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht,“ und fügte hinzu: „Das mit dem Heilen war ein guter Trick, aber das kann auch andere Erklärungen haben.
„Was isst du?“ Er legte den Kopf schief und lächelte.
„Müsli. Warum?“
„Du gehst ins Bad, ich mache Frühstück.“
Diese Bevormundung überraschte mich so, dass ich brav gehorchte. Erst in der Dusche grinste ich, weil er mich wie ein Kind behandelt hatte. Nach dem Zähneputzen merkte ich, dass ich nur mit den alten Sachen ins Bad gegangen war und mir keine neuen mitgenommen hatte. Also wickelte ich das Badehandtuch um mich wie immer und ging auf Zehenspitzen über den Flur, um schnell nach oben zu kommen. Er klapperte in der Wohnküche mit dem Geschirr und schien sich schon bestens mit dem Schrankinhalt vertraut zu machen, sodass mir Zweifel kamen, ob ich einen Fremden so einfach allein in der Wohnung lassen sollte.
Ich lugte durch die Küchentür und er drehte sich schmunzelnd zu mir um.
Ertappt lief ich die Treppe hoch, um mich anzuziehen. Zum ersten Mal wusste ich nicht, was ich anziehen sollte. Ich zog verschiedene Pullover und Hosen heraus und stopfte sie eilig wieder in den Schrank. Schließlich nahm ich doch irgend etwas.
Ich wollte mich gerade zur Treppe umdrehen, als mir seine Lederjacke auffiel, die noch auf dem Sofa lag. Sie zog mich magisch an. Langsam schlich ich auf sie zu und ließ meine Hand vorsichtig in jede Tasche gleiten. Die meisten waren leer, aber die linke Innentasche enthielt eine Brieftasche. Ich konnte nicht anders, ich musste sie öffnen- er hatte schließlich meine Neugierde nicht befriedigt und ich hatte noch so viele Fragen. Als ich sie aufklappte, sah er mir vom Foto ernst entgegen. Er kam mir so anders vor, so harmlos ohne kurzen Bart, mit Anzug und weißem Kragen. Sein Name war Christian Kirchner, jedenfalls wies ihn das Papier so aus, laut dem er gerade achtzehn Jahre alt geworden war.
„Ein kleiner Scherz, der Name. Christian Kirchner, der ägyptische Gott“, sagte er genau hinter meinem Ohr und legte von hinten die Arme um meine Taille, als ich vor Schreck und Scham zusammenschrak.
„Ein bisschen wackelig bist du, nicht?“
„Ich- ich - es tut mir...“ Ich wollte im Boden versinken, aber er ließ mir dazu keine Zeit und legte seine Nase hinter mein Ohr.
„Isis ist berühmt für ihre Listigkeit. Mach‘ dir nichts draus. Jetzt wird gefrühstückt!“
Er hangelte mit den Händen das Treppengeländer vor mir hinunter, ohne die Füße zu benutzen und hielt mir den Stuhl, auf dem ich sonst immer saß. Vor mir waren genau die Dinge aufgedeckt, die ich jeden Morgen aß, aber alles war liebevoll arrangiert, während ich sonst die einfache Version bevorzugte. Die Milch war in einem Krug statt in der Packung, die Müslischale und alles andere stand auf einer sauberen Tischdecke, der Zucker war in einer Zuckerdose und der Orangensaft in einem Glas, am Rand eine Orangenscheibe. Auf einem kleinen Teller waren alle Obstsorten, die wir noch in der Küche hatten, sauber geschält und kleingeschnitten hübsch arrangiert. In der Mitte brannte eine Kerze.
„Woher wusstest du, wo alles zu finden ist?“, wunderte ich mich.
„Ich habe schon ein paar Küchen von innen gesehen,“ lachte er, „aber jetzt iss!“ Er holte sich einen Stuhl aus dem Wohnzimmer, stellte ihn mir gegenüber auf den Platz, an dem sonst Lieses Rollstuhl stand, und stützte die Hände unter das Kinn, ganz offensichtlich, um mir beim Essen zuzusehen.
„Du hast gar nicht für dich aufgedeckt!“, protestierte ich.
„Kannst du dir vorstellen, dass ich Müsli esse?“ Er legte den Kopf schief und verzog das Gesicht in scherzhaft gespieltem Ekel, und ich lachte mit ihm, bis er die Augen zur Seite drehte: „Deine Großmutter ist aufgewacht.“
Er schien besonders gute Ohren zu haben, denn ich konnte nichts hören.
„Du hast dich also schon heimlich mit der Wohnung und seinen Bewohnern vertraut gemacht“, schloss ich.
„Dann sind wir ja quitt als Schnüffler,“ grinste er. „Ich werde jetzt gehen.“
„Kommst du wieder?“, hörte ich mich fragen.
Er sah mich belustigt an. „Das möchtest du wirklich?“
Ich wollte es mehr als alles andere. Aber das hätte ich ihm nicht verraten. Stattdessen zuckte ich mit den Schultern und ärgerte mich innerlich darüber, dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.
Читать дальше