Er kräuselte spöttisch den Mund und ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „Bleib ruhig sitzen. Ich hole meine Jacke und gehe durchs Fenster.“ Ich wollte gerade aufstehen und ihm nachgehen, als ich hörte, wie der Schlüssel von draußen in die Haustür gesteckt wurde. Waltraud war im Anmarsch, um Liese fürs Frühstück fertig zu machen. Und für mich wurde es Zeit für die Schule. „Kora, beim nächsten Mal fahre bitte vorsichtig mit dem Roller. Ich kann nicht heilen.“ Osiris warf mir noch einen verschmitzten Blick zu und huschte die Treppe hoch.
Den Morgen über war ich nicht nur bester Laune, ich war aufgedreht, euphorisch, flog auf Wolken, redete wie ein Wasserfall mit Waltraud und mit Oma Liese und später in der Schule mit Freya, die alles über Osiris wissen wollte. Das mit dem Heilen verschwieg ich ihr. Irgendwie glaubte ich selbst nicht daran.
In der Pause schickte mich Frau Hunger zur Schulleitung. Herr Rossmann saß hinter einem Berg Papier und schob einige kleinere Stapel hin und her.
„Vor ein paar Tagen ist hier Post angekommen und wir sind noch dabei, sie zu sichten. Es sieht so aus, als hätte das College in Memphis wirklich einen Platz für dich frei. Du bekommst eine Unterstützung für die Flugkosten und sogar Taschengeld und wohnst auf dem Campus. Eine Bestätigung erwarten wir in der letzten Schulwoche.“ Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. So viel Erfolg an einem Tag war ich nicht gewöhnt. „Schön, dass du dich freust. Du hast es verdient“, sagte er zum Abschied.
Durch den Besuch im Schulleiterbüro hatten wir schon den Beginn des Kunst- Projekts verpasst, bei dem wir mithelfen wollten. Als ich den Raum betrat, war Frau Meyer so beschäftigt, dass sie unsere Verspätung nicht registrierte. Fast war mir, als sei ich wieder in der zwölften Klasse. „Freya, kannst du bitte schon die Bühnenentwürfe für die „Zauberflöte“ betreuen? Hier ist noch mehr Styropor und dort sind die Messer. Und Kora, seid ihr mit den Konturen fertig?“ Ich nickte wie immer und ging zu meiner Gruppe.
In der Mitte des Kunststudios stand ein Torso aus Gips, der einer antiken Statue ähnelte. Die Aufgabe der Zehntklässler war es seit der letzten Stunde gewesen, Licht und Schatten der Wölbungen mit schwarzer und weißer Malerkreide darzustellen. Zuvor hatten wir dieselbe Technik an Obstsorten ausprobiert. Was bei Weintrauben noch gut geklappt hatte, war mir beim männlichen Torso zu peinlich vorgekommen und ich hatte deswegen noch wenig zustande gebracht. Den kläglichen Versuch verwarf ich ganz, nahm mir einen neuen Bogen grauen Malerpapieres und begann gedankenverloren erst mit den schwarzen Linien, die ich dann mit dem Finger verwischte, um sie zu schattieren. Danach trug ich weiße Kreide auf und hob so die Wölbungen hervor.
„Mannomann, das sieht ja toll aus!“ Freya, die ihre Truppe kurz verlassen hatte, beugte sich über mein Blatt.
Frau Meyer war gerade auf ihrer üblichen Runde und kam hinzu:
„Wirklich sehr beeindruckend, Kora. Du machst unseren Adonis ja zu einem richtigen Sportler.“ Alle kicherten.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Torso nur von der Seite sehen konnte. Ich hatte aber einen phantastischen Rücken gemalt, der sämtliche Details enthielt, die ich am letzten Abend so gründlich studiert hatte.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle holte mich Sobek ein.
„Na, wie bist du am Donnerstag nach Hause gekommen?“
Ich schwieg wohl ein wenig zu lange, denn er fragte einfühlsam:
„Möchtest du mit mir darüber reden?“, während er mir den Arm um die Schulter legte. Im Augenwinkel nahm ich gerade noch wahr, wie Freya feixte, weil Lisa und ihre Freundin mir mit offenem Mund hinterhersahen, und uns winkend verabschiedete.
Eigentlich wollte ich dankend ablehnen, schließlich hatte ich gerade Osiris kennen gelernt und hoffte, er würde am Abend wieder in meinem Zimmer stehen. Andererseits war es auch sehr nett von Sobek, mir seine Gesellschaft anzubieten. Nach all den Jahren als Mauerblümchen tat mir die Aufmerksamkeit gut und ich wollte den glücklichen Moment nicht verspielen. Daher bot ich ihm an, nach der Schule zu mir zu kommen. Am Montag hatte ich wegen der Sonnabendvorstellung keinen Dienst im Planetarium, und so verließen wir die Schule gemeinsam. Den Mercedes- Oldtimer, der genau auf der anderen Straßenseite stand, ignorierte ich absichtlich.
Sobek betrachtete meine Zimmereinrichtung, ließ die Finger über die Buchrücken in meinem schmalen Regal gleiten und wusste zu fast jedem Buch etwas zu sagen. Er war witzig und philosophisch und bemühte sich deutlich, mich nicht mit meiner Unbelesenheit zu beschämen, sondern herauszufinden, was ich mochte. Schließlich wurde mir das höfliche Befragen zu anstrengend. „Erzähle mir von deiner Welt,“ forderte ich ihn auf, „Du bist anders.“
„Meinst du, weil ich anders aussehe?“
„Du kannst mir auch von deinem Zimmer erzählen oder warum du Rilke liest,“ schlug ich vor.
„Wahrscheinlich komme ich dir anders vor, weil ich mich etwas intensiver als andere mit den Dingen jenseits unseres Horizonts auseinandergesetzt habe,“ sinnierte Sobek und sah dabei in die Ferne. Es wäre mir zu persönlich vorgekommen, ihn zu fragen, ob er Sehnsucht nach dem Tod hätte. Daher zog ich es vor, Rilke zu zitieren:
„Der Tod ist groß. Wir sind die seinen, lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.“
„Was schließt du daraus?“, fragte er mich, während er sich umdrehte. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte.
„Dass Leben und Tod nah beieinander liegen?“, vermutete ich und dachte an meine Kärtchen, die ich auf dem Tisch herumgeschoben hatte. „Ich hatte einmal Todesangst. Da ist mein Leben in einem Moment an mir vorbeigezogen“, sagte ich. „Und was schließt du denn daraus?“ Ich war gespannt, denn ich glaubte, jetzt den Grund für sein merkwürdiges Dasein zu erfahren.
„Alle reden vom Jenseits und haben Angst davor, besonders meine Leute. Wenn der Tod aber in uns und mitten unter uns ist, sollten wir uns lieber jetzt schon mit ihm beschäftigen, ihn kennen lernen, uns mit ihm anfreunden, denn er ist ein Teil von uns. Wenn wir diese Seite ignorieren, werden wir nicht vollständig sein. Manche finden, mit dem Tod ist nicht die Zeit nach dem Leben gemeint, sondern das Tote in uns, die Taubheit unserer Körper, das absterbende Mitgefühl dem Nächsten gegenüber, die Gleichgültigkeit angesichts des Elends der Welt.“
Ich war betroffen. Sobek war gar kein Spinner. Er dachte nur tiefer nach und hatte seine ganz eigene Meinung.
„Wenn dann solch ein „toter“ Mensch stirbt, ist es für die Welt so, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Dann ist es auch nicht wichtig, wann er stirbt, denn tot ist er ja ohnehin schon,“ führte ich seine Gedanken weiter.
Sobek lächelte zum ersten Mal. „In diesem Moment fühle ich mich ziemlich lebendig, weil ich mit dir darüber reden kann.“
Ich musste an etwas denken, das ich oft gehört, aber bislang nicht verstanden hatte: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Jetzt fand ich, dass es genau Rilkes Gedanken waren.
„Das ist von Martin Luther,“ sagte er abschätzig und ließ sich auf mein Bettsofa plumpsen, „aber trotzdem nicht schlecht.“
„Bist du nicht in der Kirche?“ In Tangstedt waren die meisten Einwohner protestantisch und Mitglieder der Dorfkirche.
„Ich habe mich mit Religionen beschäftigt, aber ich glaube nicht auf die Weise an einen Gott, wie du das meinst.“ Es schien ihn zu amüsieren, dass ich ihm das zugetraut hatte.
Ich setzte mich zu ihm. Eine Weile schwiegen wir gemeinsam. Das war eine neue Erfahrung, mit einem Jungen in einem Raum allein zu sein und nicht sprechen zu müssen. Bei Sobek fühlte ich mich angenommen.
„Kora, was bedeutet dein Name?“, fragte er nachdenklich.
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