„Nichts Bestimmtes, denke ich“, vermutete ich, „und deiner?“
Er legte einen Arm unter den Kopf und erklärte: „Sobek war eine der beiden ägyptischen Sonnengottheiten, die man in Kom Ombo verehrt hat. Er verkörperte die Nacht und geleitete die Sonne in Form eines krokodilköpfigen Wesens durch die Wasser der Unterwelt bis zum morgendlichen Neubeginn. Dort übergab er sie Horus in seiner Erscheinung des Sonnenfalken Haroeris.“
„Hätte dir der Name Horus nicht besser gefallen?“, fragte ich. Solche Unterhaltungen hätte ich früher nicht geführt, merkte ich im selben Moment wie mir auffiel, dass Sobek nichts mit den Dingen zu tun hatte, die mir passiert waren.
Sobek lachte. „Ich war mit meinen Eltern einmal in Kom Ombo. Dort habe ich gesehen, dass Horus und Sobek eine Einheit bilden; beide Seiten, Tag und Nacht, sind gleich wichtig. Der Tempel hat zwei genau spiegelbildlich angeordnete Seiten und alles ist doppelt vorhanden, zwei Säulenhallen, zwei Höfe, zweimal das Allerheiligste. Links wird Horus verehrt, rechts Sobek. Ganz ehrlich, ich finde den Kult für Sobek auch spannender. Man hat auf der rechten Tempelseite zu seinen Ehren Krokodile gehalten und die heiligen Tiere mumifiziert, wenn sie starben. Horus dagegen hatte Kinder, die symbolisch als Löwe, Stier, Adler und Mensch an der linken Tempelseite abgebildet sind. Sie verkörpern die Winde und die Himmelsrichtungen.“
„Das sind doch die Symbole für die vier Evangelisten in der Bibel“, warf ich ein.
„Tja, wer hat da wohl von wem geklaut?“, scherzte Sobek.
„Das ist nicht das erste Mal in den letzten Tagen, dass mein abendländisches Fundament anfängt zu wackeln“, sagte ich.
„Kora, du bist ein offener und nachdenklicher Mensch. Ich würde dich gern meinen Eltern vorstellen“, schlug er vor. Mich freute sein Kompliment und ich nahm sein Angebot gern an. Er verabschiedete sich erst, als es dunkel wurde.
Ich fragte mich, ob Osiris die Tür oder das Fenster bevorzugen würde. Zu meiner Enttäuschung stand er erst gegen Mitternacht in meinem Zimmer, als ich mich gerade zum Schlafengehen zurechtgemacht hatte.
Ohne nachzudenken schoss ich auf ihn zu, doch seine harte Miene bremste mich und ich blieb vor ihm stehen. „Was ist los?“, fragte ich unsicher.
„Sobek.“ Solch einen Tonfall war ich nicht gewöhnt. Soche Einsilbigkeit auch nicht.
„Sobek habe ich heute zum zweiten Mal getroffen“, sagte ich entschuldigend und fand im selben Moment, dass ich mich nicht entschuldigen musste. Frustriert stand ich im kurzen Nachthemd in meinem eigenen Zimmer. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er mich in den Arm nahm. Je länger er mich so stehen ließ, umso merkwürdiger fand ich, dass er mich offensichtlich beschattete und dass er meinte, es ginge ihn etwas an, mit wem ich mich träfe und es kamen mir Zweifel, ob ich nicht dabei war, mich in den falschen Mann zu verlieben.
Plötzlich wurde sein Gesicht weich und er legte seine Hand an meine Wange. „Verzeih mir. Ich bin eifersüchtig“, sagte er, „dabei kennst du mich noch gar nicht“, und er fügte hinzu: „Du kennst ja nicht einmal dich.“ Ich fürchtete, dass er jetzt wieder irgend etwas erklären würde, das ich nicht verstand. Stattdessen umarmte er mich und ich konnte endlich meine Arme um ihn schlingen und seinen warmen Körper spüren.
„Isis, da ist so viel, das du wissen musst. Du bist wichtig, und du bist in Gefahr. Die Menschen, die du kennst, sind nicht alle zufällig um dich. Manche erschleichen dein Vertrauen, ob zu Hause, in der Schule oder im Planetarium. Ich mache mir wirklich Sorgen,“ sagte er und strich mir über das Haar.
Ich hatte keine Angst. Die Kühle der Nacht, die durch das offene Fenster hereinströmte, war es nicht, die mich zittern ließ, sondern eine Spannung, die ich noch nie empfunden hatte, so als wären wir Feuer und Eis.
Nach einer Weile sagte er ohne mich loszulassen: „Ich kann dich hier nicht beschützen. Ich nehme dich mit.“ Spontan hüpfte mein Herz und schrie: Ja! Dann begann ich nachzudenken. „Ich kann nicht. Ich muss noch in dieser und in der nächsten Woche in die Schule gehen. Und ins Planetarium. Und am Wochenende ist das Ringreiten, dafür habe ich lange geübt. Und wohin willst du mich überhaupt mitnehmen?“ Er sah mich fassungslos an, dann ging er verärgert in meinem Zimmer auf und ab. „Ich, ich, ich, und, und, und. Ist dir nicht bewusst, dass du ab jetzt nicht mehr dir allein gehörst? Du hast eine Aufgabe, du musst...“ Er verstummte. „Die Welt retten?“, fragte ich und schnaubte beleidigt. Er schüttelte den Kopf. „Du glaubst das alles nicht“, stellte er fest und seufzte. Dann hob er mich plötzlich hoch und trug mich in mein Bett, zog sich Jacke und Schuhe aus und bot mir seinen Arm als Kopfkissen. Ich ließ es gern mit mir geschehen und war gespannt, was er mit mir vorhatte. Leider holte er tief Luft und begann zu erzählen:
„Im Gegensatz zu dir weiß ich seit Beginn meines Lebens, was auf uns zukommen soll. Meine Pflegeeltern sind Idealisten, dem Wohl der Menschheit in einem Jahrhunderte alten Bund verhaftet.“ Wie er das sagte, klang es ironisch. Ich fand es merkwürdig, dass er sich über solch gute Eltern lustig machte. Er fuhr fort: „Stets tolerant und friedliebend, führten sie ein vorbildliches Leben, bis sie erfuhren, dass alle Bemühungen zum Guten an einem bestimmten Punkt enden würden, dem Ende der bekannten Ordnung, der Wiederkehr der ersten Gottmenschen, deren Schicksal die Welt in gut und böse gespalten und das Jenseits geschaffen hatte. Manche bezeichnen dies als den Beginn der Apokalypse.“
Osiris war in einen gelangweilten Singsang verfallen, der es mir schwer machte, ihm das abzunehmen. „Es waren bestimmte Menschen auserwählt, den Göttern als Gefäß zu dienen.“ Er vergewisserte sich kurz, ob ich ihm noch folgte. Dann fuhr er fort: „Du und ich stehen seit unserer Zeugung unter dem Schutz meiner Pflegeeltern und ihrer Freunde. Doch während du nichts davon bemerkt hast, weil meine Leute niemals in dein natürliches Leben eingegriffen hätten, starb ich bei meiner Geburt.“
Ich richtete mich auf und suchte nach der Pointe, doch seine türkisfarbenen Augen zeigten keine Spur mehr von Ironie. Irritiert wollte ich das Ganze abkürzen und strich mit meiner Hand über seine Brust, doch er hob mein Kinn hoch, damit ich ihn ansah, während er fortfuhr: „Eine Krankenschwester, die zu uns gehörte, nahm mich beiseite, nachdem der Kinderarzt den Tod festgestellt hatte, und sorgte dafür, dass nicht ich beerdigt wurde, sondern ein anderes Kind. Ich ging ein in die Vorhalle der Toten, in der das Herz gegen die Feder der Maat, des Göttergerichts, gewogen wird und wo der Lebenswandel des Gestorbenen entscheidet, ob der Tote in das Reich des Osiris reisen und um Aufnahme bitten darf. Da ich Osiris bin, hat mich die Maat genährt und wieder auf die Erde gesandt, das tote Kind erwachte und entwickelte sich anders als andere Kinder.“ Seine Gedanken schweiften ab und er verstummte.
„Hm?“, machte ich, um ihn aufzuwecken, und er fuhr fort: „Auf dem Anwesen meiner Eltern fiel dies nicht auf. Sie erzogen mich im Bewusstsein, dass meine erwachenden Fähigkeiten vielleicht nicht reichen würden, um Seth zu besiegen, denn auch der zukünftige Seth hatte in den Sethis Helfer gefunden. So erhielt ich eine Ausbildung in den Kampfkünsten, lernte fleißig, was meine privaten Lehrer mir beibringen konnten und versuchte schon vor der Zeit reif zu sein für das, was kommen würde.“
Schon wieder bekam seine Stimme einen ironischen Unterton, als schiene er die besondere Erziehung, die er genossen hatte, nicht besonders zu schätzen.
„Sobald ich erfuhr, wo du bist, wurde ich dein Schatten, dein Wächter und Beschützer. Als es dich vor dem Planetarium erwischte, war ich direkt hinter dir. Den Rest kennst du.“
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