Während er gesprochen hatte, waren Bilder in meinem Kopf aufgestiegen von Osiris im Übungskampf mit seinen Lehrern, beim Studieren und im alten Mercedes vor meiner Schule. Er war immer bei mir gewesen. Sein Leben lang hatte er darauf gewartet, dass ich Isis wurde. Und meine unromantischen ersten Sätze zu ihm waren „Ich muss ins Planetarium“ gewesen und „Wie spät ist es?“ Jetzt war mir auch klar, warum er wusste, dass ich noch rechtzeitig kommen würde, denn von meinem Job im Planetarium hatte er sicher auch jede Einzelheit gewusst.
Er hatte Recht: Immer sagte ich „Ich, ich, ich“ und hatte etwas vor. In mir wuchs das schlechte Gewissen: Für ihn war ich wirklich die Isis, auf die er immer gewartet hatte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass an der ganzen Geschichte etwas stimmte, aber er hatte sein Leben danach ausgerichtet. Er glaubte an mich. Er hatte nicht einmal gezappelt, während er mir all dies erzählt hatte. Und ich wurde nicht müde, sein Gesicht zu betrachten.
Er war verstummt und sah zurück.
Er fuhr mir mit einem Finger über die Augenbrauen, die Wange und den Mund.
„Würdest du mich ebenso ansehen, wenn ich nicht Isis wäre?“ Das war wichtig.
Er dachte nach, während er mir durch die Haare fuhr. „Würdest du nicht strahlen, wenn du nicht die Sonne wärst? Ich weiß es nicht. Aber vielleicht hilft es dir zu erfahren, dass du ihr sehr ähnlich bist.“ Ich fand die Idee, dass sich jemand ungefragt in mir breit machen würde, äußerst unsympathisch. Neugierig war ich trotzdem.
„Wie war Isis?“ Er kräuselte die Lippen. „Ich habe sie noch nicht getroffen. Willst du jetzt doch etwas über die ägyptische Mythologie wissen?“
Ich rollte mit den Augen und er lachte.
„Über Isis steht viel in den Pyramideninschriften. In Gräbern, auf Särgen, in Papyri über den Tod, überall kommt Isis vor. Und die Schreiber der Griechen und der Römer haben den Mythos von Isis weitergeschrieben. Niemand weiß genau, wie alt der Mythos wirklich ist, aber alle beschreiben sie als die absolute Superfrau. Isis war die mächtige, zauberkräftige, listige Göttin, schlau genug, dem Sonnengott Re durch eine zauberhafte Erpressung seinen geheimen Namen zu entlocken und dadurch mächtiger als alle Götter zu werden. Sie konnte heilen und sich verwandeln. Sogar den Tod besiegte sie durch ihre Liebe zu ihrem Bruder und Gemahl Osiris, dem sie zum Weiterleben im Jenseits verhalf.“ Osiris sah mich forschend an. „Waren das zu viele ägyptische Namen?“
Ich hatte das Gefühl, dass er sich über mich lustig machte. „Glaubst du wirklich, dass ich so werde wie Isis: listig, zauberkräftig, mächtig?“
Er sah mich an, als müsste er einem kleinen Kind etwas erklären. „Das sind doch keine negativen Fähigkeiten. Anders hätte sie Seth nicht ausgetrickst.“ Als er sich aufsetzte, begann er das bekannte Zappeln. Diesmal konnte er die Hände nicht still halten und untermalte mit ihnen seine Erklärungen. „Es gibt den Mythos von Isis und Osiris, in dem ihre anderen Stärken deutlicher werden, zum Beispiel unendliche, standhafte Liebe und Treue, Streben nach Heil und Harmonie und warme, starke Mütterlichkeit. Isis zieht heimlich und nur unterstützt von ihrer Schwester Nephtys den Sohn und Erben des Osiris auf, den späteren Gottkönig über ganz Ägypten, Horus. Sie bildet ihn aus, damit er um die Wiederherstellung der Ehre seines Vaters kämpft. So ist sie zweifach die Bewahrerin der Ordnung Ägyptens: Sie sorgt dafür, dass Osiris Herrscher bleibt, wenn auch nur Herrscher im Jenseits, und sie erhält die soziale Ordnung auf der Erde mittels ihres eigenen Sohnes Horus.“
Osiris schien das zu glauben, was er sagte- ich nicht. Für mich waren Frauen in Ägypten Menschen zweiter Klasse, die mit Kopftüchern herumliefen und nichts zu sagen hatten.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade in Ägypten der erste Gottkönig solch ein Versager gewesen sein sollte, dass ihn seine Frau vor dem Vergessen retten musste. Warum war sie dann nicht gleich selbst Königin geworden? Es hat doch ägyptische Königinnen gegeben wie Nofretete und Hatschepsut.“ Das wusste ich von Freya.
Osiris lachte schallend und konnte sich kaum beruhigen. Ich setzte mich beleidigt auf.
Als er sich einigermaßen im Griff hatte, rückte er dicht neben mich, strich über meinen Rücken und sagte mit mühsamem Ernst: „Wir haben uns beide nicht ausgesucht, was mit uns passiert. Lass uns das Beste daraus machen.“
Trotz seines Versöhnungsangebots hatte ich genug und merkte, wie müde ich war. Osiris hatte mich verwirrt und ich wollte schlafen. Ehe ich überlegen konnte, wie ich ihm anbieten sollte, zu bleiben, strich er mir über die Haare und fragte: „Darf ich morgen wiederkommen?“ Ich nickte erleichtert und fiel in einen kurzen, traumlosen Schlaf, sobald er die Leiter hinabgestiegen war.
Dienstag, 29.6.10
Solch ein unregelmäßiges Leben war ich nicht gewöhnt. Noch vor wenigen Wochen ging ich stets früh zu Bett, las noch etwas und stand morgens meist schon vor dem Weckerklingeln auf, besonders im Sommer, wenn die Sonne in mein Zimmer schien. Zwei Nächte mit Osiris als Gast genügten, um mich vollkommen durcheinander zu bringen. Mein Kopf zog sich zusammen, die Augen brannten und meine Glieder waren schwer wie Blei, als ich mich aus der Tür schleppte und zum Bus ging. Benommen wie ich war, wunderte ich mich auch nicht darüber, dass der Kaufmannswagen des alten Dormanns zu dieser unmenschlich frühen Zeit vor Frau Biehls Haus stand. Ich stolperte zum Bus und wäre fast in Sobek hineingelaufen, der gleich hinter der Einmündung der Steinstraße in den Waldweg stand und mir den Weg versperrte. Er trug ein schwarzes T- Shirt mit dem Aufdruck „Sentenced“ und darunter „killing me“ und sah verärgert aus. „Ich muss dich heute Abend unbedingt sprechen“, sagte er grußlos. Auf diesen Ton hatte ich gerade an diesem Morgen überhaupt keine Lust und entgegnete ebenso grußlos: „Heute arbeite ich nach der Schule im Planetarium und ich bin hundemüde, da gehe ich nirgendwo hin.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Sobek um und ging vor mir her zum Bus. Auf seinem Rücken prangte der Schriftzug „killing you“. Den Rüpel Jan starrte er so böse an, dass dieser uns beiden den Vortritt in den Bus ließ. Sobek strebte auf die hinterste Rückbank und warf sich dort schräg auf zwei Sitze. Ich verschmähte seine übel gelaunte Gesellschaft und setzte mich in der Mitte auf einen Einzelplatz. Keine zehn Minuten später plumpste Sobek quer zur Fahrtrichung auf den Sitz vor mir und sah starr geradeaus, als er sagte: „Bitte entschuldige. Versteh doch, es ist sehr wichtig. Ich kann auch bei dir vorbeikommen, wenn du zu müde bist. Es dauert nicht lange.“ So gutmütig war ich nicht, auf seine Launen einzugehen. Ich sagte nichts und stieg grußlos an der Schule aus.
An diesem Tag trafen sich wieder die Schüler, die am Bühnenbild für die Schulaufführung arbeiteten. Freya und ich hatten die Idee gehabt, dass zunächst jeder eine eigene kleine Bühnenidee aus Formblöcken entwerfen und auf eine Platte kleben sollte, damit wir den Lichteinfall simulieren konnten. Als das Material verteilt war, blieb für uns erst einmal nichts zu tun.
Freya nahm sich daher eigene kleine Styroporbrocken zu ihrem Platz und begann sofort zu schneiden und zu kleben. Ich war zu beleidigt von Sobeks unmöglichem Verhalten um noch etwas Neues anzufangen und beobachtete sie dabei.
Sie schnitt in eine rechteckige Platte zwei quadratische Löcher, in jede Hälfe eines, und legte die kleinere Platte mit den Löchern auf eine größere Grundlage. Der Rand um die Innenplatte war fast handbreit. Ganz außen klebte sie einen niedrigen Rand auf den Grund, sodass das Ganze jetzt drei Vertiefungen aufwies: Die beiden rechteckigen Senken in der Mitte und den umlaufenden breiten Graben vor dem Rand. Dann stellte sie längs der Senken sechs dicke, eckige Klötze auf die kleine Platte und klebte sie fest, sodass der Platz zwischen den beiden quadratischen Senken eher aussah wie eine Brücke, die von der einen Säulenreihe zur anderen führte.
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