„Hast du eine Idee, was das bedeuten könnte?“ „Im Moment nicht.“, seufzte Marie und steckte den Zettel wieder ein, „Ich glaube, wir sollten erst mal wieder nach oben gehen.“
Es war schon spät. Der Vollmond schien durch das weit geöffnete Fenster und erfüllte den Raum mit seinem silbernen Licht. Ein Windstoß fuhr durch Maries Haar und ließ sie allmählich die angenehme Kühle dieser Sommernacht spüren. Sie konnte nicht schlafen. Gedankenverloren schaute sie hinaus in die Weite. Es war dunkel. Nur hier und da konnte sie ein paar Umrisse erkennen. Seufzend setzte sie sich auf die Fensterbank. Ihre Gedanken wanderten umher und ließen die Ereignisse der letzten Tage neu aufleben. Es war alles so schnell passiert! Noch vor weniger als einer Woche hatten Leo und sie den Brief erhalten und waren aus purer Neugierde nach Hannover gefahren. Dort waren sie am Flughafen auf Jonas gestoßen, der sie schließlich zu einem Flugzeug geführt hatte, das sie später in dieses fremde Land gebracht hatte. Oder sollte sie besser sagen: in eine andere Welt? Sie hatte vorher noch nie irgendetwas von dem Land Iria gehört, geschweige denn es auf einer Weltkarte gesehen. Doch seitdem sie hier war, fühlte sie sich beinahe wie zu Hause angekommen. Sie hatte neue Freunde gefunden und war von einem Tag auf den anderen in die fremde Welt eingetaucht. Und das, fast ohne es zu merken. Doch eines wusste sie: wenn sie jetzt wieder nach Hause zurückkehren würde, wäre sie nicht mehr Dieselbe. Schweigend und nur ihrem eigenen Atem lauschend, ließ sie ihren Blick in die sternenklare Nacht schweifen. Hier sah man noch viel mehr Sterne als zu Hause und sie waren viel heller! Und irgendwie… irgendwie schien das gesamte Firmament ein anderes zu sein. Stopp! Doch nicht. Sie entdeckte den großen Wagen, der direkt über ihr das riesige, gewölbte dunkelblaue Seidentuch zierte. Dies war das einzige Sternbild, das sie kannte. Ihre Gedanken tanzten weiter, ohne dass sie sie kontrollieren konnte. Oder wollte. Sie dachte an den Einen, durch dessen Wort das da oben geschaffen worden war. In Momenten wie diesen spürte sie jedes Mal, wie groß und wunderbar dieser jemand war. Kein Mensch hier auf der Erde würde ihn jemals in seiner gesamten Größe und Macht, in seinem gesamten Wesen begreifen können. Es wurde dunkler. Und wieder heller. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, sich bald danach aber wieder verflüchtigt. Der strahlend silberne Taler ließ sie nun endlich wieder die Hand vor den Augen erkennen. Dieser Moment voll Dunkelheit ließ sein Licht nun noch viel schöner strahlen. Moment mal! Marie erinnerte sich an etwas. Langsam nahmen die Gedanken in ihrem Gehirn Gestalt an, bis sie schließlich fähig war, das Ganze in leise, flüsternde Worte zu fassen. „Du siehst es in der Dunkelheit, schau raus.“ Das war die erste Zeile des Rätsels gewesen! Was Anderes sollte damit gemeint sein außer dem Mond? Doch das war noch nicht alles. Weitere Gedanken nahmen in sekundenschnelle Form an und setzen sich zu einem kompletten Bild zusammen. Der zweite Vers lautete nämlich: „Es ist so groß und sieht doch so klein aus.“ Waren damit vielleicht die Sterne gemeint? Marie konnte es nicht genau sagen, aber sie musste es auf jeden Fall versuchen. Aufgeregt kramte sie ihren Notizblock hervor und notierte die beiden Zeichen auf der erstbesten Seite, die sie aufschlagen konnte, beinahe so, als hätte sie Angst, die vermeintliche Lösung des Rätsels wieder zu vergessen.
Das Klackern der rosa Stöckelschuhe hallte durch den gesamten Raum und ließ Fräulein Quietsch´s quirlige Stimme noch lebhafter erscheinen, als sie es ohnehin schon war. Die Schüler waren froh, ein Thema gefunden zu haben, mit dem sie die Lehrerin von dem eigentlich bevorstehenden Vokabeltest ablenken konnten. „Also, Ehrfurcht vor Gott zu haben, heißt nicht etwa, dass wir Angst vor ihm haben müssen, Jakob.“, erklärte sie dem Jungen, der das Thema angeschnitten hatte und wedelte ihm bei diesen Worten belustigt mit einem der vielen knallpinken Pommel ihres rosa Pelzmantels vor dem Gesicht herum. „Es heißt einfach nur, dass wir uns bewusst machen, dass er allmächtig ist und ihm nicht egal ist, was wir tun. Deshalb sollten wir aus Respekt vor ihm versuchen, nach seinem Willen zu leben und danach zu fragen. Natürlich kann Gott Menschen auch bestrafen. Aber er liebt sie auch und will ihnen helfen, ihr Leben erfüllend zu gestalten und zwar um jeden Preis. Deshalb hat er ja auch seinen Sohn Jesus geschickt, der am Kreuz für unsere Schuld bezahlt hat. Wenn wir das wissen und annehmen, brauchen wir uns nicht vor Gott zu fürchten.“ Mit diesen Worten war der kleine Exkurs zum Thema „unverständliche Ausdrücke in der Bibel“ beendet. Mit einem lauten Knall fiel der Ordner mit den Vokabeltests aufs Lehrerpult. Bald darauf machte sich die Lehrerin daran, mit zusammengekniffenen, pink angemalten Lippen, die Blätter auszuteilen. Also war es den Schülern doch nicht gelungen, sie abzulenken. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Aber eines nahmen sie aus dieser Stunde mit: nämlich, dass doch nicht alle Lehrer ein und denselben rot- goldenen Umhang trugen. Nach den beiden Englischstunden stand als nächstes das Fach „Verschiedene Ansichten“ an. Als Leo erfuhr, dass Herr Maschael sie in diesem Fach unterrichten würde, sank seine Laune augenblicklich unter den Gefrierpunkt. Er war nicht der Einzige.
Wenig später saß die ganze Klasse durchgeschwitzt und vor Anstrengung heftig atmend in einem kühlen Kellergewölbe. Sie hatten es gerade noch rechtzeitig geschafft, den Raum zu finden, denn Herr Maschael war nicht gekommen, um sie dort hinzuführen. Diesen Raum hier konnte man fast als das komplette Gegenteil der anderen Räume bezeichnen. Wo normalerweise bunte Kissen die modernen Stühle zierten, machten einem hier unbequeme Holzschemel aus wahrscheinlich schon längst vergangenen Zeiten das Leben schwer. Der Raum hatte keine Fenster. Stattdessen waren an den Wänden Fackeln angebracht und auf jedem Tisch standen zwei Kerzen. Es roch feucht und modrig. Die restliche Raumausstattung war sehr einfach. Hinter dem alten Lehrerpult hing eine Schiefertafel, die noch mit dem Inhalt der letzten Stunde beschriftet war. Ansonsten war hier nichts. Keine Bilder an den Wänden, keine Plakate, gar nichts. In diesem Moment öffnete sich die Tür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen und fiel sofort darauf wieder mit einem lauten Krachen zu. Herr Maschael eilte durch die Reihen nach vorn und verursachte auf diese Weise einen kühlen Luftzug, der jeden frösteln ließ, der ihm zu nahe kam. Außerdem bewegte er sich inmitten einer Parfümwolke. Die Schüler waren froh, den Raum doch noch rechtzeitig gefunden zu haben, denn die Aufmachung ihres Lehrers ließ nichts Gutes erahnen. Die normale Lehrerkluft trug er ebenso wenig wie Fräulein Quietsch. Stattdessen war er so gekleidet, wie man es auf einer Beerdigung erwarten würde. Sein Outfit passte erschreckend gut zu dem düsteren Raum. Nachdem er es sich auf seinem harten Stuhl bequem gemacht hatte, begrüßte er die Schüler mit verstellt freundlicher Stimme. „Guten Morgen, liebe fünfte Klasse! Ich hoffe, ihr fragt euch nicht etwa, warum wir hier Unterricht haben.“ Der zweite Teil des Satzes klang eher wie eine Drohung. Doch es folgte die Erklärung. „Ich persönlich befürworte die Kühle und die Schlichtheit von Unterrichtsräumen. Meiner Meinung nach fördert sie das Denken und lenkt die Schüler nicht so sehr vom Unterrichtsstoff ab. Leider werde ich euch in diesem Raum nur während des Sommers unterrichten können. Eure Schulleiterin will meine Lehrmethoden einfach nicht akzeptieren!“, stieß er verächtlich hervor. „Zum Glück.“, murmelte Mino, so leise, dass der Lehrer es nicht hören konnte. „Dieser Raum ist absolut hässlich!“, regte sich Fabienne leise auf, „Wie kann der uns so etwas zumuten? Bestimmt ist unter den Tapeten alles voller Schimmel!“ Anna antwortete flüsternd: „Na, Hauptsache wir bekommen hier während des Unterrichtes keinen Besuch von Ratten.“ Daraufhin verzogen einige Mädchen angeekelt das Gesicht. Doch eine von ihnen musste zu laut ihren Unmut geäußert haben. Jedenfalls drehte sich Herr Maschael, der gerade noch dabei gewesen war, die Tafel zu wischen und neu zu beschriften, langsam um und ließ seine Habichtsaugen kalt und beinahe schadenfroh durch die Reihen schweifen.
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