„Während meiner Schulzeit auf Firaday war ich auch in diesem Zimmer.“
„Wirklich?“, fragte Hedwig erstaunt. „In diesem Zimmer?“, wunderte sich Marie.
„Ja, genau in diesem Zimmer.“, antwortete die Frau lächelnd, „Zusammen mit meiner Freundin Tyra. Es wäre gut möglich, dass ihr hier noch etwas Interessantes entdeckt.“ Während sie das sagte, zwinkerte sie den beiden Mädchen bedeutungsvoll zu. Wenig später verließ sie den Raum, nicht ohne Hedwig vorher noch gute Besserung zu wünschen. Stöhnend kroch Leo wieder unter dem Bett hervor und rappelte sich auf.
„Das war knapp.“ Dann hustete er. „Da unten ist alles voller Staub.“, beschwerte er sich, „Das ist total eklig.“ Als nächstes musterte er prüfend seine Kleidung und stellte dann zufrieden fest: „Immerhin bin ich nicht nass geworden. Fast hätte die mich mit ihrem Wischmopp erwischt.“ „Och...“, machten die Mädchen spöttisch und kicherten, woraufhin Leo beleidigt das Gesicht verzog. Doch dann wurden sie wieder ernst. „Was meint ihr, was diese Andeutung sollte?“, fragte Marie irritiert, „Hat die Frau etwa von dem Geheimgang gesprochen?“ „Bestimmt.“, sagte Leo und ließ sich auf Maries Bett fallen. „Oder sie meinte etwas Anderes, das mit dem Gang zusammenhängt und das wir noch nicht entdeckt haben.“, vermutete Hedwig geheimnisvoll. Wie aufs Stichwort schob sich die Geheimtür unter einem der Betten mit einem leisen Knarzen zur Seite. Heraus kam Jonas. „Vielleicht sollte man das Bett doch mal an die Seite schieben.“, ächzte er, während er versuchte, darunter hervor in den Raum hinein zu kriechen, ohne sich ständig zu stoßen. Als er endlich wieder auf beiden Füßen stand, sagte er: „Ich soll euch abholen.“ „Abholen?“, fragte Marie verständnislos, „Warum?“ „Weil jetzt die AGs stattfinden, ihr Schnarchnasen.“, erinnerte er sie, „Hedwig soll nur gehen, wenn sie sich fit genug fühlt. Ich glaube Fräulein Quietsch bezweifelt, dass kranke Menschen anständig singen können.“ Nach einem gemurmelten Protest von Hedwig fuhr Jonas fort: „Alle AGs sammeln sich heute erst mal in der Einganghalle.“ Mit diesen Worten öffnete er die Tür zum Flur und trat hinaus. „Kommt ihr?“, fragte er, während er sich fragend zu den Anderen umdrehte. „Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist? Ich meine, sollten wir nicht lieber den Geheimgang benutzen? Herr Maschael ist hier vor kurzem vorbei spaziert.“, gab Leo zu bedenken. „Angsthase!“, rief Jonas, streckte ihm die Zunge raus und rannte davon. Leo raste ihm hinterher. Bevor Marie das Zimmer verließ, bemerkte sie noch augenverdrehend: „Jungs… die sind alle auf dem geistigen Niveau von Kindergartenkindern.“ Nachdem Hedwig ihr grinsend recht gegeben hatte, schloss sich die Tür.
Im Gänsemarsch schlenderte die Bibelkicker Mannschaft ihrem Trainer Aron Munaki hinterher quer durch den Innenhof. Aron war ein Elftklässler mit breiten Schultern, dunklem Haar und einer Frisur, die der von Herrn Reen sehr ähnelte. Sobald er Leo und Jonas dabei erwischt hatte, wie sie beide lärmend die Wendeltreppe des Mädchenturms hinunterjagten, hatte er sie eingefangen und zur Vernunft gebracht. Jetzt liefen sie gemeinsam mit den Anderen diszipliniert in Reih und Glied. Es fehlte nur noch, dass sie Händchen hielten. Plötzlich stoppte der ganze Trupp. Doch Jonas war so sehr damit beschäftigt gewesen, auf den Boden zu starren und nach Arons Zurechtweisung den Beleidigten zu spielen, dass er es nicht bemerkte und mit voller Wucht in seinen Vordermann hineinlief. Zu seinem eigenen Glück war dieser nur sein Freund Leo. Nach einem verärgerten „Pass doch auf!“ herrschte wieder Ruhe in der Reihe. Neugierig beugte Jonas sich nach vorn, um den Grund für ihr plötzliches Anhalten zu entdecken. Aron stand über eine Art Falltür gebückt da und machte sich daran, sie zu öffnen. Als dies erledigt war, gab sie den Blick in einen engen Tunnel frei. Einer nach dem Anderen stieg hinein. Während des etwas längeren Fußmarsches fing die Gruppe nun endlich an, gesprächiger zu werden. „Ich hoffe, dass ich überhaupt noch richtig spielen kann, nach dieser langen Pause.“, gab ein etwas rundlicher Neuntklässler zu bedenken. Daraufhin verdrehte ein kleiner, dürrer Achtklässler mit blondem Haar die Augen und erwiderte: „Ich hab dir doch gesagt, du sollst in den Sommerferien trainieren, René! Hast du denn nicht einmal mit deinen Geschwistern gespielt?“ Der Angesprochene verzog bedauernd die Mundwinkel.
„Nein, ich sagte dir doch, dass ich fast die ganze Zeit bei meiner Oma zu Besuch war. Und die spielt kein Bibelkicker.“ „Ach, mach dir mal keine Sorgen.“, versuchte eine kleine, dünne Sechstklässlerin mit weißblondem Haar ihn zu beruhigen. „Domikin und ich haben auch nicht so viel geübt. Ich habe ihm gesagt, dass wir mehr Allgemeinwissen brauchen, um die Fragen zu beantworten, aber er war zu faul, um etwas zu lernen.“ „Erzähl keinen Schwachsinn, Lillian!“, wies der dünne Junge sie mürrisch zurecht, „Ich habe mich auf die Fragen vorbereitet.“ „Ach ja, und wie?“, fragte das Mädchen in sarkastischem Tonfall. „Das geht dich gar nichts an!“, brauste Domikin jetzt auf, „Oh Mann, kleine Geschwister sind echt nervig!“ Daraufhin konnte Leo ihm nur schmunzelnd Recht geben. Als er einige Zeit später aufsah, bemerkte er, dass der Tunnel ein paar Meter weiter vorne plötzlich aufhörte. Dort war nur ein Schacht, durch den das Licht der Nachmittagssonne auf die Strickleiter fiel, die einem das Heraustreten ermöglichte. Wenig später stand die gesamte Mannschaft, sechs Jungen und sechs Mädchen, auf einer großen, von Mauern umgebenen Wiese, die an den Rändern durch mehrere Reihen von Bänken gesäumt war. Am Rand des Spielfeldes standen zwei kleine Häuschen, in denen sich die Schüler umziehen konnten. Für Jonas und Leo waren bereits neue Trikots bereitgestellt worden, natürlich wieder einmal in den Farben der Schule. Die T-Shirts waren rot und der goldene Stoff der kurzen Hosen schimmerte sobald Licht darauf fiel. Als alle fertig waren, wurde den Neuen die Mannschaft vorgestellt. Der etwas rundlichere Neuntklässler, der sich auf dem Weg zum Stadion wegen seiner schlechten Kondition beklagt hatte, hieß René Balkon und Domikin und Lillian hießen beide mit Nachnamen Bruno. Danach stellte sich ein ziemlich großer Elftklässler mit Vollbart als Elando Elwando vor. Als nächstes begrüßte sie eine kräftig gebaute, rothaarige Zehntklässlerin namens Karin Parellen. Ihr folgten eine Siebtklässlern mit braunem Lockenkopf namens Pia Olirse, eine Neuntklässlerin mit langem, blondem Haar und Wimpern, die fast ihre Augen verdeckten namens Rahel Davids und die schwarzhaarige, schmalgesichtige Achtklässlerin Jane Fischer. Zuletzt stellte sich noch eine Elftklässlerin namens Anulai vor, von der sie erfuhren, dass sie seit ihrer Geburt blind war. Nachdem die Vorstellungsrunde vorbei war, teilten sie sich in zwei Mannschaften auf und spielten gegeneinander.
Einige Zeit später, nachdem die AGs zu Ende waren, schlenderten Marie und Hedwig den Geheimgang entlang und unterhielten sich. Sie hatten beschlossen, ihn nach dem Gespräch mit der Reinigungskraft noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
„Und, wie war es beim Chor?“, fragte Marie, „Geht es dir mittlerweile besser?“ Hedwig nickte und grinste dann. „Peter Hoffmann ist im Stimmbruch und hat uns deshalb die ganze Zeit aus dem Takt gebracht. Am Ende hat ihn Fräulein Quietsch, die wir übrigens auch in Englisch haben, bestimmt 10-mal „Alle meine Entchen“ vorsingen lassen, um seine Treffsicherheit der Töne zu verbessern.“ Jetzt lachte Hedwig laut auf und fuhr fort: „Das Ende vom Lied war dann, dass Herr Doktor Chili, ein etwas älterer Lehrer, der uns in Geschichte unterrichten wird, wie verrückt durch das Gebäude gerannt ist, weil er dachte, dass es brennt!“ Nachdem ihr Lachen ein wenig abgeklungen war und sie Peter Hoffmann genug bemitleidet hatten, wechselten sie das Thema. „Oh, Hedwig, schau mal! Da ist die Pfütze, in der du stecken geblieben bist!“, zog Marie ihre Freundin auf. Jetzt, wo sie an ihren ersten Besuch hier unten zurückdachte, erschienen ihr die Dunkelheit und die seltsamen Geräusche von damals gar nicht mehr so schlimm. Blöd war nur gewesen, dass Hedwigs Taschenlampe ausgegangen war. Hedwig grunzte missbilligend und trat, um ihrer Empörung über dieses Erlebnis Ausdruck zu verleihen, gegen einen großen Stein, der direkt neben der Pfütze lag. Das, was dann geschah, jagte Marie einen eiskalten Schauer über den Rücken und ließ all ihre unangenehmen Empfindungen, die sie beim ersten Besuch in dem Gang verspürt hatte, wieder zurückkehren. Hedwig stattdessen starrte die Pfütze begeistert an. „Der ganze Schlamm wird ja plötzlich weniger!“, rief sie fasziniert. „Fast so, als ob unter uns jemand stehen würde, der ihn mit einem großen Staubsauger aufsaugt.“, kommentierte Marie bange. In diesem Moment kam eine Falltür unter dem ganzen Matsch zum Vorschein. In das Holz war ein Gedicht eingeritzt. Hedwig beugte sich, fiebernd vor Abenteuerlust, hinunter und las es vor. „Du siehst es in der Dunkelheit, schau raus. Es ist so groß und sieht doch so klein aus. Das Zeichen für das, was du glaubst. Es ist dir ein Helfer, für Rat, den du brauchst.“ Nun verlor auch Marie allmählich ihre Skepsis und beugte sich fasziniert zu der Tür hinunter. Nach einem kurzen Test stellte sie fest, dass sie verschlossen war. „Vielleicht ist das, was da drauf steht, ein Rätsel, das man lösen muss, um die Tür zu öffnen.“, vermutete Hedwig. „Ja, bestimmt.“, murmelte Marie in Gedanken versunken. Dann holte sie Zettel und Stift aus ihrer Jackentasche und schrieb das Gedicht ab. Nach einer Weile angestrengten Schweigens fragte Hedwig:
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