„Seltsam, oder?“, stellte Jonas kritisch fest. „So seltsam nun wieder auch nicht.“, meinte Professor Ferono und erklärte: ,,Er versucht dauernd, Kollegen die einen höheren Posten haben als er davon zu verdrängen, indem er Schlechtes über sie erzählt. Er möchte nämlich selbst die Schule leiten.“ Professor Feronos Miene konnten sie lebhaft ansehen, wie sehr ihr der Plan ihres Kollegen ihr missfiel. Nach einer Weile entließ die Direktorin die beiden wieder.
Wieder auf ihrem Zimmer angelangt, sahen sie sich ihre Stundenpläne an. Leo stellte fest, dass hier neben Mathe, Deutsch und Englisch noch andere Fächer unterrichtete wurden, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Da war zum Beispiel das Fach IPT, das die Abkürzung für irianische Pflanzen und Tiere war. Außerdem gab es Missionsunterricht, und ein Fach, das Verschiedene Ansichten hieß. Aber er war froh, zumindest die Grundkenntnisse, die er auch zu Hause brauchen würde, an dieser Schule zu erlernen. Nachdem er sich gemeinsam mit Jonas über die viele Arbeit beschwert hatte, die am nächsten Tag auf sie warten würde, bemerkte Jonas gähnend: ,,Irgendwie bin ich schon so müde. Dabei ist es doch noch gar nicht so spät.“ Nach einem kurzen Blick auf die Uhr antwortete Leo stirnrunzelnd: ,,Ähm… das kommt darauf an, was du unter spät verstehst. Es ist jetzt genau 21:30.“ „Was?“, Jonas fiel fast aus allen Wolken, als er das hörte. Sonst ging er immer sehr früh ins Bett, weil er früher oft im Unterricht eingeschlafen war. Da er befürchtete, ihm würde dieses Missgeschick morgen wieder passieren, stöhnte er laut: „Oh nein!“ Doch Leo meinte nur nüchtern: „Ich glaube wir sollten langsam damit anfangen, unsere Koffer auszuräumen.“ „Vergiss es.“, gähnte Jonas, ließ sich aufs Bett fallen und räkelte sich,
„Ich will am ersten Tag nicht wieder auf meine Schulhefte sabbern während ich schlafe. Für die Koffer ist morgen auch noch Zeit.“ Leo schüttelte grinsend den Kopf. Währenddessen fischte er seinen Schlafanzug, eine Elektro-Zahnbürste und eine riesige Zahnpastatube aus seinem Koffer. Als er sich die Tube genauer ansah, lächelte ihm Prinzessin Elsa mit Olaf, dem verrückten Schneemann, entgegen. Verdrießlich stellte er fest, dass dies die geliebte Zahnpasta seiner Schwester sein musste. Dann schaute er sich suchend um und fragte Jonas: ,,Gibt es hier irgendwo ein Badezimmer?“ „Klar, gleich hinter der Tür da.“, grinste dieser und deutete auf das unscheinbare Holz in der Wand. „Das ganze Zeug brauchst du übrigens nicht, es gibt Schulschlafanzüge und mit deiner komischen Elektro-Zahnbürste kommst du auch nicht weit. Irianer haben in Badezimmern keine Steckdosen.“ Er rümpfte die Nase, als wäre dies das Normalste der Welt und alles Andere blanker Unsinn. Dann fuhr er zufrieden fort: „Außerdem kommt hier jeden Tag eine Putzfrau rein, die sich um die ganzen Hygieneartikel und so weiter kümmert. Chice Zahnpasta übrigens!“, bemerkte er abschließend und lachte. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass du auf so etwas stehst!“
Was bei den Jungen allmählich für Ruhe sorgte, ließ die Mädchen noch lange nicht schlafen. Nachdem Hedwig sich von der Last ihrer unfreiwilligen Schlammkur befreit hatte und es ihr gemeinsam mit Marie endlich gelungen war, die Koffer zu entleeren, fragte sie hellwach: „Wollen wir noch zu den anderen Mädchen gehen? Wir könnten ihnen ja… ach, nein, das mit dem Gang bleibt ja unser Geheimnis.“, sie lächelte peinlich berührt und fügte hinzu: „Schade eigentlich. Sonst hätten wir jetzt etwas zu erzählen gehabt.“ „Ich bin mir sicher, dass dir auch so die Worte nicht ausgehen.“, bemerkte Marie keck, „Aber wollen wir jetzt wirklich noch mit denen reden? Die schlafen doch bestimmt schon fast alle.“ Hedwig schnaufte. „Von wegen.“, meinte sie, „Eben noch putzmunter durch die Gänge gepoltert und jetzt im Tiefschlaf, na klar. Komm schon!“ „Na schön.“, gab Marie nach und tröstete sich mit dem Gedanken, vor Aufregung sowieso nicht einschlafen zu können. Bereits im Flur trafen sie auf zwei ihrer Klassenkameradinnen. Das große, schlanke Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und spanischem Akzent stellte sich als Anna vor. Neben ihr stand die Kleine, etwas molligere Fabienne. Bald schon fingen sie an, ihren restlichen Abend gemeinsam zu planen. „Wir könnten Brettspiele spielen.“, schlug Anna vor. „Oder die Schule erkunden.“, ergänzte Fabienne mit blitzenden Augen. In diesem Moment sah Hedwig ihre Chance, zum zweiten Mal an diesem Tag ein kleines Abenteuer zu erleben, winkend und flatternd auf sich zu schweben. „Die Schule erkunden klingt super.“, warf sie ein, bevor jemand Anderes sie zu weniger interessanten Brettspielen verdonnern konnte. „Wer ist dabei?“ Wenig später standen die vier etwas ratlos vor der Tür zum Speisesaal und hielten verzweifelt nach etwas Neuem Ausschau. Ganz so wie gestrandete Kapitäne, die sich nach Tagen des Hungers und des Durstes danach sehnen, endlich den Mast eines Segelschiffs am immer gleichbleibend leerem Horizont zu entdecken. „Da können wir lang.“, sagte Hedwig plötzlich, als sie die unscheinbare Tür neben der Treppe zum Ostturm bemerkte und machte die Anderen mit dem Finger fuchtelnd darauf aufmerksam. Sekunden nachdem sie die Tür aufgestoßen hatten, stießen sie mit einer Elftklässlerin zusammen, deren lange, blonde Haare sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
„Huch! Was macht ihr denn hier?“, rief sie erstaunt aus, „Ich dachte, diese Räume hier werden euch erst morgen gezeigt.“ Bei diesen Worten warf sie zusätzlich einen vielsagenden Blick auf die Uhr, ganz so, als wolle sie die Mädchen nonverbal ins Bett schicken. „Ja, schon...“, druckste Anna herum. „Bevor wir einschlafen wollten wir eben unbedingt wissen, wie es im Rest des Gebäudes aussieht.“, erklärte Hedwig.
„Na gut, wenn das so ist“, das fremde Mädchen schmunzelte und gab sich einen leichten Ruck, „ich kann euch gerne noch schnell herumführen. Mein Name ist übrigens Esther. Und wer seid ihr?“ Nachdem die vier Mädchen sich vorgestellt hatten, folgten sie Esther einen breiten, schummrigen und vom flackernden Licht der Kerzen hell erleuchteten Gang entlang. Nach wenigen Metern hielt Ester an und öffnete eine Tür. Neugierig traten die Mädchen ein. Zu ihrer aller Erstaunen war der Raum ziemlich groß und hatte verhältnismäßig viele Fenster. An der Wand ihnen gegenüber standen mehrere Klaviere, daneben ein Schlagzeug, Trommeln und verschiedene, kastenförmig verpackte Instrumente, wie Geigen oder Posaunen. In dem großen Regal, das die eine Wand vollständig bedeckte, konnten die Mädchen allerlei kleinere Instrumente, sowie wahnsinnig viele Notenhefte und zusammengeklappte Notenständer entdecken. „Das ist unser Musikzimmer.“, erklärte Ester, „Hier können sich die Schüler jederzeit an den verschiedensten Instrumenten ausprobieren. Ihr dürft sie euch sogar ausleihen und mit aufs Zimmer nehmen, vorausgesetzt natürlich, ihr behandelt sie gut.“ „Und wem müssen wir Bescheid sagen, wenn wir uns etwas ausleihen wollen?“, fragte Marie interessiert. „Frau Mühlstein, unsere Bibliothekarin ist für den ganzen Bereich hier zuständig.“, antwortete Esther. „Und wer schleppt mir das Klavier den Ostturm herauf, falls ich in Ruhe üben möchte?“, fragte Hedwig lachend und betrachtete staunend das große Instrument. „In so einem Fall kannst du dir den Raum für eine Stunde reservieren.“, schmunzelte Esther. Nachdem Hedwig aufgegeben hatte, darüber zu diskutieren, ob sie jetzt, mitten in der Nacht, Schlagzeug spielen durfte, gingen sie weiter. Der nächste Raum war gefüllt mit verschiedenen Spielen, die meisten davon waren Brettspiele. Überall verteilt standen Tische, an die man sich setzen konnte, um seine Freizeit so zu gestalten. Als nächstes kamen sie in die Bibliothek. Leider war Frau Mühlstein schon schlafen gegangen, sodass Hedwig sie nicht um die Erlaubnis bitten konnte, mit den Instrumenten Krach zu machen. Marie fand einige sehr interessante Bücher und sie beschloss sich diese bei der nächsten Gelegenheit nacheinander auszuleihen. Als letztes kam der Gemeinschaftsraum. Dort waren Sofas, Sessel und Sitzkissen über das ganze Zimmer verteilt, meist in Nähe des großen, in die Wand eingelassenen Kamins, dessen Feuer aber bereits erloschen war. Am Ende des Flurs befand sich noch eine weitere Tür. Esther erklärte: „Hier geht es zu den Zimmer der Oberstufenschüler.“ Sie gähnte und fuhr fort: „Ich gehe dann auch mal ins Bett. Aber vorher muss ich den Bereich hier noch abschließen, das habe ich Frau Mühlstein versprochen.“ Also begleitete sie die vier in die Eingangshalle. Dort verabschiedete sie sich und wünschte ihnen eine gute Nacht. Nachdem die Tür hinter Esther ins Schloss gefallen war und vernehmlich klickte, hörte die Mädchen auf einmal in einem der Gänge Stimmen. Langsam bewegten sie sich Richtung Ostturm. Als sie an besagtem Gang vorbeikamen, wurden sie Zeugen davon, wie Professor Ferono und Herr Maschael heftig miteinander diskutierten. Doch verstehen konnten sie aus dieser Entfernung kein Wort. Unsicher blieben sie am Treppenabsatz stehen. Marie wollte einfach nur zurück in ihr Zimmer und sich schlafen legen, doch Hedwig schien andere Gedanken zu haben. Ebenso Fabienne. Leichthin sagte Letztere: „Ich wollte Professor Ferono sowieso noch fragen, wann wir unsere Schuluniformen bekommen.“ Im nächsten Moment ging sie bereits schnurstracks auf die beiden sich gedämpft streitenden Lehrer zu, dicht gefolgt von Hedwig. Marie und Anna folgten etwas zögerlich. Jetzt konnten sie ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen. Bei jedem Schritt wurden die Worte klarer, bis sie schließlich alles einwandfrei verstehen konnten. Jetzt waren die Mädchen nur noch wenige Meter von den beiden entfernt, doch die Lehrer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die vier nicht bemerkten.
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