Vielleicht spielte der Champagner dabei eine Rolle, aber die beiden Damen im Odeon unterhielten sich tatsächlich ausgesprochen angeregt und glitten dabei immer wieder von ihrer gemeinsamen ersten Muttersprache, Englisch, in ihre zweite, Hebräisch.
Als Kessler dann endlich gegen 14:35 Uhr das Odeon betrat, mußten die Ayin mit Schrecken feststellen, daß der Kurier, Wyss, niemand anderes war als der unauffällige Mann mittleren Alters, der die ganze Zeit mit einem Café mélange und der NZZ am Sonntag am Nebentisch gesessen hatte, der schon vor ihnen dort gewesen war und der ihre gesamte Unterhaltung mitbekommen haben mußte. Während Wyss aufstand, auf Kessler zuging und sich vorstellte, tippte eine der beiden Ayin-Agentinnen hektisch eine kurze SMS, um ihren Kollegen draußen mitzuteilen, daß Wyss längst im Café war.
Für diesen Schrecken wurden die beiden Ayin jedoch dadurch entschädigt, daß sie das Gespräch zwischen Kessler und Wyss zumindest in groben Zügen verfolgen konnten, soweit es ihre lückenhaften Kenntnisse des Schwyzerdütsch eben zuließen:
Kessler und Wyss waren sich offenkundig noch nie zuvor begegnet. Wyss sollte 2500 Franken für diesen Auftrag erhalten. Kessler sagte Wyss (natürlich) nicht, was für Daten auf der Festplatte gespeichert waren, sagte nur, es handele sich um streng vertrauliche Geschäftsunterlagen. Wyss hinterfragte das nicht weiter. Kessler schärfte Wyss wieder und wieder ein, der Wissenschaftler Doktor Derakshan dürfe die Daten auf der Festplatte zwar mit Hilfe seines Supercomputers prüfen, sie dabei aber auf gar keinen Fall kopieren. Wyss dürfe die Festplatte darum keine Sekunde lang aus den Augen lassen. Letzteres verstehe sich von selbst, entgegnete Wyss, aber wie er Ersteres denn verhindern oder auch nur erkennen solle? Dies war so ziemlich die einzige Frage, die Wyss im Verlaufe des Gesprächs stellte, doch Kessler hatte darauf keine sinnvolle Antwort. Wyss müsse eben aufpassen, ganz genau hinsehen, dürfe sich nicht ablenken lassen. Dann übergab er Wyss auch schon tausend Franken im Kuvert als Anzahlung, einen Zettel mit den Kontaktdaten von Doktor Derakshan und die Festplatte, achtlos in eine Coop-Plastiktüte eingewickelt. Ende der Unterredung, exit Kessler.
Etwas Neues erfahren hatten die beiden Ayin durch das Belauschen dieser Unterredung nicht, außer daß Wyss sofort bei ihnen hätte anfangen können, so vermaledeit unauffällig war er: weder jung noch alt, weder groß noch klein, weder dünn noch dick, weder attraktiv noch häßlich, weder gut noch schlecht angezogen.
Nachdem er das Café verlassen hatte, tat Wyss jedoch etwas, was das gesamte Team regelrecht in Panik versetzte. Wyss prüfte, ob er observiert wurde, stellte sich dabei sogar recht professionell an: Er schlenderte zunächst gemächlich den Limmatquai entlang in Richtung Hauptbahnhof, bog dann abrupt links ab und überquerte die Limmat auf einer schmalen Fußgängerbrücke, um das etwaige Verfolgerfeld zu teilen. Danach hastete er ein kurzes Stück die Bahnhofstraße entlang, betrat das Kaufhaus Jelmoli durch einen Seiteneingang und verließ es schnurstracks wieder durch einen anderen Seiteneingang. Das etwaige Verfolgerfeld würde dadurch erneut geteilt und die übriggebliebenen Verfolger gezwungen, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben. Dann marschierte er auf dem schwer einsehbaren Fußpfad im Flußbett des Schanzengrabens, eines Nebenarms der Sihl, in Richtung Hauptbahnhof. Mögliche verbliebene Verfolger hätten nun keine andere Wahl, als sich entweder zu offenbaren oder den visuellen Kontakt abzubrechen, einen Umweg zu nehmen und Wyss am Bahnhof zu erwarten.
Schließlich am Bahnhof angekommen, nahm Wyss nicht die erste S-Bahn zurück zu seinem Wohnbüro in Thalwil, sondern lauerte zunächst eine gute halbe Stunde im unterirdischen Zwischengeschoß, einem nur über zwei Rolltreppen erreichbaren „Flaschenhals“, den etwaige Verfolger auf ihrem Weg zu den S-Bahn-Gleisen passieren mußten. Er nahm dort keine verdächtigen Personen wahr. Erst dann machte er sich beruhigt auf den Heimweg.
Das Team mußte die Verfolgung Wyss’ bereits nach wenigen Minuten abbrechen, sonst wären sie unweigerlich aufgefallen. Aber wenigstens gelang es während seiner Flucht zwei der insgesamt sechs Ayin des Teams, sich Zugang zur Tiefgarage von Wyss’ Apartmenthaus in Thalwil zu verschaffen und seinen VW Passat mit einem Macteq mini GTS Peilsender zu versehen. Es blieb ihnen nicht genug Zeit, um den Peilsender an die Autobatterie anzuschließen, doch zumindest für die nächste Woche, die Standzeit der im Peilsender eingebauten Akkus, würde ihnen Wyss nun nicht mehr entwischen.
Außerdem war die bloße Tatsache, daß Wyss nach seinem Treffen mit Kessler Gegenobservationstechniken angewendet hatte, wahrscheinlich interessanter als alles, was er angestellt haben könnte, während ihn das Team aus den Augen verloren hatte. Den ganzen Sonntagabend über redete sich das Team die Köpfe heiß, telefonierten Haim und Avi mit der Zentrale: Wer, zum Teufel, war dieser Wyss denn eigentlich wirklich? War das Ganze eine Falle der Iraner, arbeitete Wyss für die Iraner? Wußte oder ahnte Wyss, was für Daten auf der Festplatte gespeichert waren, wie sensibel sein Auftrag wirklich war? Hatten sich die beiden Ayin im Odeon irgendwie verraten?
Erst gegen 22:40 Uhr am Sonntagabend kam die Entwarnung aus Tel Aviv: Keine Panik, der Mann ist immer so, war nach einer Konditorlehre dreizehn Jahre lang beim Schweizer Armeenachrichtendienst, so etwas prägt, und fährt seitdem praktisch jede Woche für eine Schweizer Bank kofferweise Schwarzgeld durch ganz Europa, so etwas prägt noch mehr.
Bundesautobahn 661, nördlich von Frankfurt am Main, am Montag, den 3. November 2008
„Guck doch mal Big Tam an! JoJo, nun guck doch mal! Diese Hände!“ Wiehernd vor Lachen ließ sich Fila-Frank in den Rücksitz ihres gemieteten Mercedes S 320 zurückfallen und nahm noch einen Schluck aus der Wodkaflasche. Fila-Frank war zu breit, um noch verständliche Scherze machen zu können: Was er hatte sagen wollen war, daß das Lenkrad selbst dieser großen Reiselimousine in Big Tams mächtigen, tätowierten Pranken derart winzig aussah, als säße er am Steuer eines Bobby-Cars.
Egal, Fila-Frank war zu high, um sich daran zu stören, daß niemand mit ihm lachte, und zu high, um zu bemerken, daß ihm JoJo vorhin beinahe Eine gezogen hätte, weil er JoJos Wodka wegsoff wie ein durstiges Kamel Wasser. Er wußte nur, er war auf Wolke Acht und mußte schleunigst ein bißchen runterkommen, bevor er einen Herzkasper kriegte. Sein Herz raste, seine Handflächen waren klamm von kaltem Schweiß und er hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug etwas zuviel Sauerstoff in die Lungen zu kriegen, so als sei er an ein falsch eingestelltes Beatmungsgerät angeschlossen. Wodka half dagegen, dämpfte den Effekt dieses verfickt genialen Speeds ein bißchen. Das Frankfurter Speed war erstklassig, mindestens doppelt so pur wie alles, was es in London gab. Pink Champagne, eine Premium-Qualität für Börsenmakler und junge Assistenzärzte. Pur, purer als pur, nur noch pur, Purpur. Geniales Zeug, aber fast schon ein bißchen zuviel des Guten.
Diese Scheiß-Krauts konnten nix, außer Autobahnen und Speed, aber Speed konnten sie wirklich. Ohne ihr „Fliegersalz“ hätten die Krauts damals keinen Blitzkrrrrrrrieg führen können. Fürs Kriegführen waren sie mittlerweile zu verschwult, hatten nach dem Krieg von den Besatzungsmächten irgendwas ins Trinkwasser gemischt bekommen, waren darum heutzutage selbst bei der NATO nicht mehr gern gesehen, mit ihren Ballettröckchen und ihrem Lispeln, aber Speed konnten sie immer noch.
JoJo neben ihm nahm auch noch einen Schluck aus der Pulle, und plötzlich war der Wodka leer. Alle-alle. Einfach so. Verfickte Kacke!
„Eh, Big Tam, der Wodka ist alle und ich muß mal tierisch pissen. Halt bei der nächsten Tanke an.“
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