Den Beruf des Briefeschreibers gab es schon seit dem Mittelalter, in gering alphabetisierten Gesellschaften wie der Plaza florierte er noch immer. Ebenso wie die meisten ihrer Kolleginnen hatte Noi ihr bißchen Englisch on the job gelernt, von ihren Freiern. Dieser Unterricht hatte sich in jeder Hinsicht auf orale Lektionen beschränkt. Aber fürs Schreiben hatten sie ja Dave, der die Sponsoren von mehreren Dutzend Mandantinnen betreute.
Dave hatte für unzählige Bar- und Go-go-Girls der Plaza E-Mail-Nutzerkonten angelegt, ihnen kleine Zettelchen mit ihren E-Mail-Adressen zum Verteilen mitgegeben und ihnen ferner eingeschärft, jeden, wirklich jeden Gast nach seiner E-Mail-Adresse zu fragen, egal ob sie mit ihm fünf Minuten Small talk gemacht oder fünf heiße Nächte verbracht hatten. Dave sammelte diese E-Mail-Adressen regelmäßig ein und mailte alle neuen Kontakte an, mit teils frappierendem Erfolg. Seit sich herumgesprochen hatte, daß manche Bar Girls dank Dave sogar von Farang gesponsert wurden, an die sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnten, Männern, die ihnen höchstens mal einen Drink spendiert und hastig ihren Namen und E-Mail-Adresse auf eine Serviette gekritzelt hatten, blühte das Geschäft.
Er war stolz darauf, dieses historische Berufsbild professionalisiert und systematisiert zu haben. Mittels seiner CRM-Software und viel psychologischem Geschick maximierte er die Gesamteinnahmen über den Sponsoren-Lebenszyklus, denn länger als vier, fünf Jahre hielt selbst der naivste und vernarrteste Sponsor nicht durch.
Auch der Online-Zahlungsservice PayPal war eine geniale Innovation, ein absoluter Segen für dieses Geschäft. Anders als bei den früher üblichen Banküberweisungen oder Bartransfers über Western Union blieb dem Sponsor mit PayPal keine Zeit zum „Abkühlen“ vor der Zahlung. Nach dem Lesen einer von Daves Bettel-E-Mails bedurfte es nur ein paar Mausklicks und, Simsalabim, schon war das Geld bei der fernen Geliebten – beziehungsweise auf Daves PayPal-Konto, doch davon ahnten die Sponsoren ja nichts.
Gewissensbisse hatte Dave bei seiner Arbeit noch nie empfunden: Genausowenig wie die Sponsoren etwas dazukonnten, als Mäuseriche geboren worden zu sein, konnte er etwas dazu, als Kater geboren worden zu sein. Kater fraßen nun einmal Mäuse, das war ihre Bestimmung. Nur ein kranker, schwuler, degenerierter, französischer Kater würde jemals mit den Mäusen dieser Welt friedlich koexistieren können, aber all dies war Dave nicht.
Aufgrund Daves bemerkenswerter Fähigkeiten lief sein kleines Internet-Café sehr viel besser, als es der äußere Anschein vermuten lassen würde, aber das Bessere war bekanntlich der Feind des Guten. Vor rund zwei Monaten hatte Dave deshalb begonnen, eine ganz neue Geschäftsidee zu verfolgen. Er ermunterte seine Mandantinnen ohnehin, ihm regelmäßig aktuelle Photos von ihnen zu geben, denn nichts förderte die Spendenbereitschaft eines Sponsors so sehr wie ein steter Strom frischen Bildmaterials.
Seit ein paar Wochen manipulierte Dave systematisch diese Bilddateien, indem er sie mit einem „Trojaner“ versah: Sobald der Sponsor die Bilddatei öffnete, installierte er automatisch ein ausgefeiltes Schadprogramm auf seinem PC, welches Dave die völlige Kontrolle über seinen PC gab, das überdies selbst mit aktueller Antiviren-Software weder zu entdecken noch zu beseitigen war.
Dave hatte zuvor in einem russischen Carding-Forum mehr als fünfzehnhundert Dollar in dieses professionelle Botnet-Toolkit investiert, achthundert Dollar Grundpreis plus verschiedene Zusatzoptionen. Richtig angewendet, könnte man damit völlig risikolos die Bankkonten und/oder PayPal-Konten der Sponsoren ausräumen.
Nach der Uni hatte Dave fast zehn beschissene, trostlose Jahre lang als Programmierer bei einer Londoner Versicherung gearbeitet und wußte darum genau, wie er seine Spuren verwischen mußte. Noch aber hatte Dave kein einziges Konto ausgeräumt, er beabsichtigte dies fürs erste auch nicht.
Dave knackte die Rechner der Sponsoren nur zur Übung, zum Testen der Funktionen des Botnet-Toolkits. Die meisten Sponsoren gehörten ohnehin der unteren Mittelschicht an, waren Postboten aus Leeds oder Maschinisten aus Detroit, hatten nichts außer Schulden und einem teuren Hobby in Bangkok. Nur bei den Rentnern unter ihnen wäre tatsächlich etwas zu holen gewesen, doch gegen das, was Dave plante, waren auch deren Ersparnisse nur Kleingeld. Und dieses Kleingeld könnte er sich schließlich später immer noch abholen.
In Wahrheit hatte Dave das Botnet-Toolkit nur aus einem einzigen Grund gekauft: um sich unentdeckt auf dem PC von Urs Wyss umsehen zu können.
Als Urs zum erstenmal etwas von seinen Reisen als Bargeldkurier geschrieben hatte, war Dave wie elektrisiert gewesen: Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Wie verrückt war das denn? Der Mann bettelte ja regelrecht darum, abgezogen zu werden!
Als Noi schreibend, hatte er Urs daraufhin wochenlang gründlich ausgefragt:
„Ist das nicht gefährlich, mein Liebster? Sicherlich hast Du Wachmänner dabei, die Dich und das Geld beschützen?“
„Nein, mein Schatz. Ich reise immer allein. Das ist so Vorschrift.“
„Aber bestimmt hast Du eine Pistole, mein Liebster, und wenn böse Männer Dich berauben wollen, schießt Du sie alle tot? So wie im Film?“
„Nein, Schätzchen, das Gewehrli bleibt immer schön daheim im Schrank, wo es hingehört.“
„Mein Onkel Vikorn hat eine Pistole. Wenn ich in die Schweiz komme, bringe ich die mit. Urs, mein Liebster, ich werde Dich auf all deinen Reisen begleiten und dabei die Pistole mitnehmen. Irgendwer muß Dich doch beschützen, nicht wahr?“
„Der beste Schutz ist die Geheimhaltung. Aber wir beiden haben ja keine Geheimnisse mehr voreinander, nicht wahr, mein Schatz? ;-)“
„Aber was ist, wenn Dir jemand das Geld stiehlt? Bitte lache nicht über mich, Urs, mein Liebling, aber ich mache mir solche Sorgen. Du hättest mir das nie erzählen sollen. Ich kann kaum noch schlafen vor Sorge, und Du weißt doch, wie gerne ich schlafe …“
„Tut mir leid, mein Herz, ich wollte Dich nicht beunruhigen. Also, falls der Koffer mit dem Geld irgendwie versehentlich abhanden kommen sollte, finden wir den wieder. Da ist nämlich ein GPS-Peilsender drin, mit dem meine Kollegen jederzeit sehen können, wo der Koffer gerade ist. Aber falls jemand tatsächlich das Geld stehlen sollte, wäre das einfach Pech. Außerdem könnte UCS den Verlust leicht verschmerzen.“
Wyss war wirklich das perfekte Opfer, ihn abzuziehen das perfekte Verbrechen. Sicherlich, auch irgendwelche Drogenkartelle hatten wahrscheinlich Kuriere, die mit großen Mengen Bargeld durch die Welt reisten. Aber wer wollte schon ein Drogenkartell an den Hacken haben?
Wyss war eine ganz andere Geschichte, ein harmloser Schwachkopf, der für eine dubiose Schweizer Bank Bargeld durch Europa karrte, allein und unbewaffnet, der obendrein noch blöd genug war, damit gegenüber einem Bangkoker Go-go-Girl zu prahlen.
Dave hatte sich in Wyss’ Abwesenheit wieder und wieder auf dessen Rechner umgeschaut, seine E-Mails und seinen Outlook-Terminkalender durchforstet: Die Geschichte stimmte, jedes Wort davon war wahr. Wyss war sogar unvorsichtig genug, jeden einzelnen Termin bei jedem einzelnen Auslandskunden der UCS in seinen Outlook-Terminkalender einzutragen, mit vollständiger Adresse und Uhrzeit des Treffens. Auch die Hotels, in denen er während seiner Touren nächtigte, hatte er dort eingetragen.
Diesen Trottel abzuziehen war einfacher, als einem blinden Bettler Geld aus dem Hut zu stehlen. Noch besser: Es war ohne jedes Risiko. Wyss und seine Bank würden den Raub für sich behalten, den Verlust still und heimlich abschreiben müssen. Wohl um gegenüber Noi den braven Bürger mimen zu können, hatte Wyss das zwar nie ausdrücklich erwähnt, aber es lag auf der Hand, daß es sich bei dem ganzen Zaster nur um Schwarzgeld handeln konnte. Sauberes Geld wurde überwiesen, nicht von einem Boten wie Wyss im Koffer überbracht. Damit war klar, daß Wyss’ Bank auf keinen Fall die Polizei einschalten würde.
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