„Das leuchtet ein.“
„Nun, dabei sind wir als Schweizer Offshore-Bank aber gegenüber den jeweiligen Onshore-Banken im Hintertreffen, denn für den im Ausland ansässigen Kunden ist es natürlich einfacher, sein Geld als steuerbares Complex Money zur Volksbank Kleinkleckersdorf zu schaffen als zu uns. So hat sich eine gute Schweizer Tradition entwickelt: Wir holen das Geld einfach beim Kunden ab! Anstatt daß der Kunde mühsam selber sein Geld in die Schweiz schaffen muß und dabei Scherereien riskiert, kann er jederzeit einen Kurier bestellen, der überschüssige liquide Mittel abholt, der im Bedarfsfall aber auch Auszahlungen vornimmt. Für den Kunden hat das nur Vorteile, denn die Bank trägt das Transportrisiko und alle anfallenden Kosten.“
„Das rechnet sich für die Bank?“, fragte Fischer erstaunt.
„Und wie sich das rentiert! In den letzten Jahren sogar zunehmend, denn seit dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center sind die Grenzkontrollen immer schärfer geworden. Unsere kleineren Konkurrenten können oder wollen diesen Service darum nicht mehr anbieten. Kleinere Offshore-Banken haben keine eigene Kurierabteilung, bei denen haben früher die Kundenberater die Transporte selbst organisieren müssen. Das ist ihnen heuer zu riskant geworden. Wer als Kunde auf solch einen Service Wert legt, kommt seitdem lieber gleich zu UCS. Natürlich bieten wir diesen Service nicht Krethi und Plethi an, nur besonders vermögenden Kunden. Bei derartigen Summen fällt der Aufwand gegenüber dem zusätzlichen Ertrag kaum ins Gewicht.“
„Aha, im Endeffekt ist dieser Wyss also ein Geldbote. Wieviel hatte er denn dabei?“
„Rund drei Millionen Euro“, sagte Eberle trocken.
Fischer pfiff leise durch die Zähne: „Drei Millionen Euro, nicht übel! Und Sie können ja schlecht die Polizei einschalten, falls der Kurier mit dem Geld stiften geht. Tja, das sind dann wohl die wahrscheinlichsten Möglichkeiten: Entweder er hatte einen Unfall, oder er ist einfach mit dem Geld abgehauen.“
Weiße Zornesfalten erschien auf Raouls nougatfarbener Stirn: „Meine – Leute – hauen – aber – nicht – einfach – ab!“, protestierte er erregt, unterstrich dabei jedes Wort mit einem Fausthieb auf die Tischplatte. „Das sind allesamt ehemalige Berufssoldaten mit hervorragenden Führungszeugnissen, und die sind natürlich sicherheitsüberprüft bis in die Haarspitzen. Für Wyss würde ich meine Hand ins Feuer legen, der ist nicht abgehauen! Außerdem, falls er das wirklich tun wollte, hätte er morgen mit fast der dreifachen Summe abhauen können.“
„Wie das?“, fragte Fischer irritiert.
„Nun ja“, antwortete Eberle, „im wesentlichen sind diese drei Millionen die Differenz zwischen den Einlagen, die er einsammeln sollte, und dem Guthaben eines Dortmunder Kunden, der sich leider entschlossen hat, sein Depot bei UCS zu saldieren. Wyss sollte zunächst weitere Kundengelder einsammeln, dann mit diesen Kundengeldern plus den drei Millionen dem Dortmunder seinen Abschlußsaldo auszahlen. So war die Route angelegt. Normalerweise läuft es umgekehrt, normalerweise fahren die Kuriere mit leeren Koffern los und kommen mit vollen zurück, denn schließlich wollen wir mit dem Kuriersystem Net New Money ins Haus holen. Jedenfalls hätte Wyss mit einem wesentlich höheren Betrag untertauchen können, wenn er zuvor noch ein paar Kundentermine mehr gemacht hätte. Ich selbst glaube ohnehin nicht, daß er sich einfach aus dem Staub gemacht hat, aber dieses Argument sollte doch selbst einen Zyniker wie Sie überzeugen, nicht wahr?“
„Möglich. Möglicherweise hat er aber auch auf dieses Überraschungsmoment gesetzt und ist genau in dem Moment abgehauen, als es keiner erwartet hätte. Apropos, wer bewacht denn eigentlich diese Transporte? Dieser Wyss war doch wohl nicht alleine unterwegs, oder?“
„Doch“, sagte Raoul trotzig, „natürlich war Wyss alleine unterwegs. Innerhalb der Schweiz gibt das Grenzwachtkorps Geleitschutz und sichert den Grenzübertritt ab, aber jenseits der Grenzen sind die Kuriere auf sich allein gestellt.“
Fischers Augenbrauen schossen in die Höhe. Soso, der Schweizer Zoll mischte hier also auch mit. „Wie habe ich mir das konkret vorzustellen, mit dem Geleitschutz?“
Raoul erklärte geduldig: „Also, das übliche Procedere für Touren ins benachbarte Ausland ist, daß der Kurier mit dem Zug ins Zielland reist und sich dort einen Mietwagen leiht. So hat es Wyss auch dieses Mal gemacht. Auf den Rückreisen, wenn die Kuriere Geld im Koffer haben, identifizieren sie sich im Zug gegenüber den Grenzwächtern als Wertkuriere einer Schweizer Bank und setzen sich zur Sicherheit in deren Abteil. In internationalen Zügen hat die Grenzwache ja immer ein eigenes Abteil. Diesmal hatte Wyss aber schon bei der Hinreise Geld dabei. Deswegen gehe ich davon aus, daß er sich auch bei der Hinreise zu den Grenzwächtern gesetzt hat. Die werden ihm dann vor der Grenze ein paar Tips gegeben haben, wo die deutschen Kollegen postiert waren und wie er diese umgehen könne. Und das alles hat ja auch dieses Mal tadellos geklappt, wie immer, denn seinen ersten Termin hat Wyss pünktlich wahrgenommen.“
„Wann und wo war dieser Termin?“
„Gestern, Montag, 13:30 Uhr in Bad Homburg.“
„Wo genau in Bad Homburg?“
„Das müssen Sie nicht wissen.“
„Das werden wir noch sehen. Aber was ist danach passiert? Wo ist Wyss danach hin?“
„Das ist eben die Knacknuß. Wyss’ nächster Termin war gestern abend um 18:00 Uhr in der Frankfurter City. Diesen Termin hat er definitiv versäumt, denn der betreffende Kunde hat schon um kurz nach sieben seinen Kundenberater angerufen und dem die Hölle heiß gemacht, wo der Kurier bliebe. Der KuBe hat mich daraufhin auf dem Natel angerufen. Ich bin dann ins Büro zurück und habe versucht, Wyss auf seinem deutschen Natel zu erreichen, ohne Erfolg. Dann habe ich mir die bisher eingegangenen Meldungen vom Ortungssystem angeschaut. Die Geldkoffer haben ein GPS-Ortungssystem eingebaut, wissen Sie? Der GPS-Empfänger meldet alle halbe Stunde seine Position per SMS. So, ab Montagmorgen gab es keine Positionsdaten mehr, nur Fehlermeldungen. Das hat aber nichts weiter zu bedeuten, denn wenn der Koffer im Kofferraum eines Autos liegt, hat das Ding meistens keinen Empfang.“
„Klar.“
„Gestern gegen 15:45 Uhr gab es aber noch mal eine Positionsmeldung, die bislang letzte.“ Er stand auf, nahm sein Notebook vom Schreibtisch und stellte es auf den Besprechungstisch. „Schauen Sie, ich habe diese Koordinaten mal bei Google Maps eingegeben. Das ist irgendwo mitten im Wald, nordwestlich von Bad Homburg, das heißt, genau in der entgegengesetzten Richtung zu Frankfurt am Main, wo Wyss seinen nächsten Termin hatte. Hier, dasselbe Gebiet als Satellitenphoto: Da ist absolut nichts außer Bäumen. Es gibt keinen guten Grund, warum Wyss dorthin fahren sollte, erst recht keinen guten Grund, warum er ausgerechnet dort den Koffer aus dem Wagen holen sollte. Seitdem keine weiteren Positionsmeldungen mehr, und ich habe es ständig versucht.“
Raoul nahm ein Handy von seinem Schreibtisch, setzte sich wieder und erklärte: „Die Position des GPS-Empfängers kann man auch manuell abfragen, indem man eine SMS an den Empfänger schickt. Der Empfänger schickt dann eine SMS mit seiner aktuellen Position zurück.“ Er drückte ein paar Tasten, wartete einige Augenblicke ab, zeigte Fischer dann die Antwort-SMS: „KEIN SIGNAL“.
Fischer schaute sich die SMS aufmerksam an. „Null-null-vier-drei. Wieso hat der GPS-Empfänger denn eine österreichische Nummer?“
Raoul rollte entnervt die Augen: „Ja, sollen wir lieber eine Schweizer SIM-Karte nehmen?“, fragte er sarkastisch. „Wie auch immer, so geht das schon die ganze Zeit, immer nur ‚KEIN SIGNAL‘. Wahrscheinlich heißt das, daß der Koffer seit gestern circa 15:45 Uhr wieder im Wagen liegt.“
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