In der nächsten Pause drehte sich Tassilo zu ihr, während er die Bücher für die nächste Stunde herausholte.
»Du bist die Erste, die ich kenne, der Chemie ernsthaft Spaß zu machen scheint! Wie kommt das denn?«, fragte er freundlich. Ausnahmsweise war Melli in der Lage, eine normale Antwort zu geben.
»Mein Vater ist Bio-Technologe, er hat Bio und Chemie studiert und in beiden Fächern eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe Chemie quasi mit den Genen aufgenommen!«
»Wow, in dem Fall bist du auch in Bio gut drauf.«
»Ja, schon, bis jetzt jedenfalls.«
In diesem Moment wurde ihre erste wirklich freundliche Unterhaltung rüde unterbrochen, da ihre Englischlehrerin hereinkam und flötete »How do you do? Please sit down, so we can start with the English lessons!«
Oweia, wie ist die denn drauf, fragte sich Melli. Ihre Englischlehrerin hatte einen Traum von einem gelben Strickkleid an, gelbe Seidenstrumpfhosen und gelbe Schuhe! Ihre grauen Mini-Locken waren eindeutig Opfer von Dauerwellenmittel und zu kleinen Wicklern. Ihre Augen wurden durch eine überdimensionierte Brille im Stil der Boogie-Woogie Ära in den 60ern verglast. Diese war nicht gelb sondern grau, wie ihre Löckchen.
»My name is Mrs. Beetle, what’s your name?«
Melli war völlig überfordert. Diese Klamotten, die Brille und dann noch das Geflöte, sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Auch Tassilo neben ihr gab einen Laut, der nach Verzweiflung klang, von sich. Sie sah belustigt zu ihm hinüber. Er grinste sie an und verdrehte gespielt verzweifelt seine Augen. Melli kicherte. Die ersten Schüler stellten sich vor. Mrs. Beetle verlangte, dass die deutschen Namen, soweit möglich, englisch übersetzt wurde. Dann heißt die Gute wohl Frau Käfer, das ist ja mal witzig, dachte Melli. Sie überlegte sich ihre Antwort, da sie gleich mit ihrer Vorstellung an die Reihe kam. Das hörte sich ja beknackt an, hallo, my name is Melissa Bigman, na super. Und schon wandte sich Mrs. Beetle an sie. Melli ließ ihren Satz los. Wie erwartet ging ein Kichern durch die Reihen. Mrs. Beetle schien fast außer sich vor Freude, »Oh that’s fine, wunderfull, very special, thank you Melissa!«
Die Presswurst-Gang lachte lauthals und gab blöde Kommentare zu Melissa’s Vorstellung.
»Wo ist denn die Big?«
»Die ist vorne flach und hinten eben!«
»Die hat big was an der Klatsche.«
Mrs. Beetle wurde ärgerlich, bekam die boshaften Mädchen aber kaum gebremst. Die Presswurst-Gang bekommt ihr Fett schon noch ab, schwor sich Melli, damit konnten sie ganz sicher rechnen! Gegen Ende der Stunde ging ihr die gezierte Flöterei ihrer Englisch-Lehrerin langsam auf die Nerven. Wie viele Englischstunden hatten sie in der Woche? Mindesten sechs, überlegte sie. So ein Mist! Der Gong erlöste sie aus ihren trüben Gedanken und von Mrs. Beetle.
Tassilo grinste sie an, »Miss Big, das passt zu dir ... bist ja grad nicht klein geraten.«
Mit diesem Satz erwischte er Melli auf dem völlig falschen Fuß. Sie war gereizt wie eine Viper und dann noch so ein blöder Spruch! Wenn er sich gemeinsam mit der Presswurst Gang über sie lustig machen wollte, nur zu! Aber dann musste er auch das Echo vertragen!
»Ach halt die Klappe!«, fauchte Melli ihn an. »Kannst dich ja zu der Presswurst-Gang bewegen, die sind alle kleiner ausgefallen, nicht nur was die Länge angeht! Aber das machen sie in der Breite wieder wett!« Die Clique waren in diesem Moment unterwegs zu Tassilo und bekamen den Text quasi aus erster Hand serviert! Sofort keiften sie Melli an.
»Blöde Zicke, kein Arsch und keine Oberweite, was soll ein Kerl an dir denn toll finden?«
»Wahrscheinlich ihren IQ.«
»Wer will denn so ’ne Bohnenstange?«
O. k., ab jetzt hatte sie mit diesem Haufen blöder Zicken ganz offen Krieg. Aber sie wollte sie ja auch nicht zu ihren Freundinnen machen. Ihre blöden Sprüche berührten Melli nicht. Sie zog eine Augenbraue hoch, machte ein betont gelangweiltes Gesicht, darin war sie sehr gut, und sagte ganz ruhig: »Wer nichts in der Birne hat, muss sich einen fetten Arsch anfressen, damit wenigstens etwas herausragend ist.«
Sie drehte dem Haufen den Rücken zu und nahm Kurs auf Andi und seinen Lurchi-Freund, die am gegenüberliegenden Fenster standen und sich unterhielten. Lieber etwas über Kröten hören, als sich mit so einem Volk abgeben, dachte sie sich. Wie sie wegging, hörte sie nur noch ein halblautes »Autsch«, das offensichtlich von Tassilo stammte. Aber sie drehte sich nicht nach ihm um. Melli war erleichtert, dass sie nun doch noch in Tassilo’s Gegenwart ihre Sprache wieder gefunden hatte. Und ab jetzt konnte er ihr am Abend begegnen! Was bildete der sich denn ein? So schnell ließ sich Melli von ihm bestimmt nicht mehr um den Finger wickeln!
Die letzte Stunde hatte begonnen und so lernte die Klasse ihren Lieblingslehrer kennen. Es war von Anfang an klar, dass Herr Volkmann, vielleicht weil er noch ziemlich jung war, der sympathischste Lehrer bis jetzt war. Er unterrichtete zwar Politik und Wirtschaft, doch er machte diesen trockenen Stoff durch seine Art wirklich unterhaltsam. Als der Gong das Ende des Vormittagunterrichts ankündigte, war Melli wirklich überrascht. So schnell war bisher noch keine Stunde vergangen.
Zur Mittagspause zog Andi wieder mit Jonas ab, was Melli ganz schön wurmte. Sie packte ihre Tasche und ging hinaus auf den Schulhof. Nachmittags hatte sie noch zwei Stunden Sport, das war auszuhalten. Die vier Nachmittagsstunden Bio-Chemie am Mittwoch waren sicher schlimmer. Sie steuerte auf eine leere Bank zu, damit sie in Ruhe ihr Mittagessen ausbreiten konnte. Aus ihrer Tasche holte sie sich einen Joghurt, ein Eier-Remoulade-Brot und zum Nachtisch einen Schoko-Bananen-Riegel. Sie war gerade mit ihrem Joghurt fertig, da tauchte Tassilo auf. Es sah fast aus, als habe er sie gesucht. Bild dir nichts ein, dachte Melli. Der entschuldigt sich ganz bestimmt nicht für seine blöden Sprüche.
»Ist da noch ein Platz frei?«
»Sieht so aus«, brummte Melli.
Jetzt ging das mit dem Bauch wieder los. Das war doch zum aus der Haut fahren. Sie wollte auf den Typ wütend sein, ihn zurechtstutzen. Aber ihr Magen fuhr derart mit ihr Achterbahn, dass sie es nicht schaffte, ihn cool abzukanzeln!
Tassilo setzte sich neben sie auf die Bank. Melli packte scheinbar unbeteiligt ihr Brot aus. Sie wollte gerade hinein beißen, als ein Stück hartgekochtes Ei mit Remoulade auf ihre Jeans fiel.
»Ist klar, so ein Mist«, schimpfte Melli. Tassilo lachte leise vor sich hin.
»Nicht einfach, so etwas unfallfrei zu essen, wohl genauso schwierig, wie ein Doppel-Wopper. Da fällt mir auch prinzipiell irgendetwas hinunter.« Wollte der sich wieder einschleimen? Melli, die ihr Brot wieder in die Vesperbox gelegt hatte und mit einem Taschentuch die Remoulade von der Hose entfernte, murmelte, »Ist ja nicht schlimm, dazu gibt es Waschmaschinen.«
Das leise Lachen hatte ihr eine Gänsehaut beschert, über die sie sich schon wieder aufregte. Was war an dem Typ nur dran, dass sie so austickte? Sie schien völlig die Kontrolle über sich zu verlieren, wenn er in ihrer Nähe war und das fand Melli gar nicht gut. Es fühlte sich an, wie der bevorstehende Weltuntergang!
Eine Weile sagte keiner etwas. Melli beschäftigte sich mit ihrem Brot, obwohl ihr Bauch Karussel fuhr und Tassilo betrachtete den Park. Ausserdem wollte es Melli ihm nicht zu leicht machen. Erst nervte er sie und wenn sie dann sauer war, kam er auf die freundliche Tour, um gleich wieder einen blöden Spruch los zu werden. Da hatte sie null Bock drauf!
Nach einer Weile fragte er, »Sag mal, bist du immer so heavy drauf, ich meine, so wie vorhin?«
Melli war klar, dass er die Szene mit der Presswurst-Gang meinte. Sie schluckte ihren Bissen hinunter und erwiderte, »Nur wenn ich von dummen und ignoranten Leuten umgeben bin.«
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