Im großen Ganzen war er ja zufrieden mit dem ersten Tag in der neuen Schule: Melli und Jonas zusammen in einer Klasse mit ihm, war in seinen Augen ein Glücksfall. Die Klassenlehrerin war o. k, er mochte eine klare Ansage lieber, als Gummiparagraphen, die nach Sympathie ausgelegt waren. Es gab genug Lehrer, die nach diesem Konzept vorgingen. Andi fand es auch korrekt, dass Frau Schildknecht diesen Tassilo abgekanzelt hatte. Dem sah man doch auf den ersten Blick an, dass er ein arroganter Blödmann war. Schon wie der angezogen war! Dafür aber nichts in der Birne, dachte er für sich.
So in Gedanken kam er zuhause an. Seine Mutter registrierte den Gesichtsausdruck ihres Jüngsten und fragte ihn, »Na, erster Tag nicht so gut gelaufen?«
»Doch Mama, alles paletti. Stell dir vor, Jonas ist jetzt in meiner Klasse, das ist echt super!«
»Das freut mich aber für dich, warum dann die Sorgenfalten?«
Andi ging zur Küche, aus der es sehr gut nach Pasta Bolognese roch.
»Melli war heute extrem komisch. Aber das wird bestimmt wieder. Und, na ja, wir haben so einen Gucci-Affen in unserer Klasse, die fett teuren Klamotten, kein Hirn, aber voll abgehoben. Die Sorte, ohne die ich gut leben kann.« Andi’s Mutter lächelte und meinte, »Du musst nicht jeden mögen und auch nicht mit jedem zusammen sein, du hast ja deine zwei Freunde, das ist doch ein guter Start in der neuen Schule, nicht?«
»Ja klar Mama, ich wollte mich ja auch nicht beklagen, du wolltest wissen, über was ich nachdenke, jetzt weißt du es. Außerdem interessiert mich der Inhalt dieser Töpfe brennend«, er wies auf den Herd, »mein Magen hängt bös in der Kurve!«
»Ja dann mal los, dann essen wir beide am besten gleich.«
Der Rest der Familie kam erst Abends nach Hause. Xenia, die Älteste war schon verheiratet und lebte mit ihrem Mann in einem Nachbarort. Xanthia und Xira waren noch in der Ausbildung und kamen erst abends nach Hause so wie Andi’s Vater. Die etwas exotischen Namen seiner Schwestern waren Mutter’s Schuld. Sie war von den X-Namen regelrecht besessen. Bei Andi hatte sein Vater aber nicht mitgespielt. Der war ihm dafür sehr dankbar, auch wenn er die Namen seiner Schwestern schon irgendwie cool fand, ein bisschen schräg vielleicht, aber trotzdem cool. Doch seine Begeisterung nahm rapide ab, wenn er daran dachte, er müsste sich als Xenophon, Xaver oder Xerxes irgendwo vorstellen. Das wäre dann schon zu viel. Aber wie gesagt, seine Mutter war in diesem Fall nicht an ihrem Herzallerliebsten vorbeigekommen.
Während Andi und seine Mutter ein gemütliches Mittagessen abhielten, war Melli den Tränen nahe. Ihre Mutter war noch nicht zuhause. Das war o. k. Das Problem war, Melli hatte ihren Hausschlüssel vergessen. Nachdem sie um das ganze Haus gelaufen war, in der Hoffnung, dass Mum ein Fenster offen stehen lassen hatte, saß sie jetzt frustriert auf der Treppe vor dem Haus. Ihre Taschen hatte sie achtlos fallen gelassen, die übrigen Bücher oben drauf gelegt. Sie musste dringendst auf die Toilette. Hoffentlich kommt Mum gleich nach Hause, dachte sie verzweifelt, sie hatte schon richtige Schmerzen. Nach weiteren qualvollen 15 Minuten überlegte sie, in welcher Ecke des Gartens sie sich erleichtern könnte, sie konnte es nicht mehr aushalten. Leider war der Garten von sämtlichen Nachbarn rundherum einzusehen. Eigentlich kam nur die große Tanne in Frage. Die müsste genügend Schutz vor neugierigen Blicken bieten. Melli schlich zur Tanne, die neben dem Haus stand und vergrub sich in den Ästen. Der Baum war sehr groß, die Äste mit den Nadeln sehr dicht, sodass Melli schon völlig zerkratzt war, bis sie sich zum Stamm des Baumes durchgekämpft hatte. Wenigstens blickdicht, dachte sie. Sie kauerte sich unter den Baum, nicht ohne vorher im Kreis zu spähen, ob nicht doch ein Nachbar einen Blick auf ihr Hinterteil werfen konnte. Kaum, dass sie von ihren Qualen erlöst war, hörte sie ihre Mutter an das Haus fahren. Super. Die Frau hatte wirklich ein irres Timing, dachte Melli das zweite Mal an diesem Tag. Sie plagte sich aus der Tanne. Verflucht, warum musste man Blautannen pflanzen! Ihre Arme waren völlig zerkratzt. Teilweise blutete es richtig.
»Melli, wo bist du?«
Melli’s Mutter kam um die Hausecke.
»Mein Gott, wie siehst du denn aus? Was hast du denn gemacht?«
Ihre Mutter schaute sie entsetzt an.
»Ich habe den Hausschlüssel vergessen!«, versuchte Melli von ihrem ramponierten Aussehen abzulenken. Das klappte natürlich nicht. Ihre Mum hakte gleich nach.
»Und wo hast du dich so zugerichtet?«
Ihr Ton war schon etwas schrill, scheinbar regte sie sich wirklich auf.
»Ach das sind nur ein paar Kratzer«, meinte Melli. »Mir war langweilig, da habe ich versucht, auf die Tanne zu klettern.«
Melli hätte niemals zugegeben, was sie wirklich in der Tanne gemacht hatte.
»Sag mal bist du ganz durchgeknallt? Fällt dir da nichts besseres ein? Das ist doch unglaublich! Und wann benutzt du dein Hirn einmal, um im Alltag klarzukommen. Deine Träumereien in allen Ehren, aber in deinem Alter den Schlüssel zu vergessen, ist doch ein bisschen zu viel. Das kann man doch verlangen ...«. Melli hörte schon nicht mehr zu. Wenn Mum einmal warmgelaufen war, schaute Melli prinzipiell, dass sie das Weite suchen konnte.
»Melissa! Komm sofort zurück! Zuerst werden die Arme und dein Gesicht gewaschen und desinfiziert, sonst entzündet sich das alles noch! Dann kommt noch eine Salbe darauf! Und keine Diskussionen, dazu bin ich wirklich nicht aufgelegt!«
Auch das noch! Es gibt Tage, an denen man gar nicht aufstehen sollte und dieser war ganz sicher einer davon! Melli ließ die Taschen mit den Büchern, samt denen, die sie in den Händen trug, einfach auf das Bett fallen. Mein Gott, war das ein bescheidener Tag! Sie legte sich auf ihr Bett.
Ihr Zimmer war praktisch und doch auch etwas flippig eingerichtet. Auf ihrem Bett lag eine rot-orange Tagesdecke, die zu den gleichfarbenen Vorhängen passten, die an ihrem dreieckigen Fenster hingen. Sie hatte sich dieses Zimmer wegen des Fensters ausgesucht. Ihren Kleiderschrank hatte sie mit Phantasieblumen bemalt, die sich ebenfalls in rot-orange-Tönen kreuz und quer über den Schrank rankten. Ihr Schreibtisch stammte von ihren Großeltern. Groß und massiv, mit einer Menge Platz sowohl in als auch auf ihm. Melli liebte dieses Möbel heiß und innig. Davor stand ein bequemer Drehstuhl. Zwischen Schreibtisch und Wand befand sich ihr wichtigstes Stück. Ein Ohrensessel, ebenfalls aus dem Fundus der Großeltern. In diesem Sessel dachte Melli nach, schmökerte in ihren Büchern oder träumte vor sich hin. Dazu setzte sie sich nicht hinein, sondern legte ihren Kopf auf die eine Lehne und ließ die Beine über die andere Lehne hinab baumeln. Das war exzessives Entspannen! Im Moment war sie aber alles andere als entspannt. Sie ärgerte sich immer noch über ihr kindisches Verhalten in der Schule, darüber, dass sie sich so sehr von diesem Tassilo aus der Fassung bringen ließ und nun musste sie auch noch diese Prozedur mit ihrer Mum hinter sich bringen.
»Melli?«
Mist, das hatte sie schon wieder vergessen! Ihre Mum hatte bestimmt schon den halben Apothekerschrank ausgeräumt. Am besten bringe ich es gleich hinter mich, dachte Melli. Sie trottete die Treppe hinunter Richtung Bad. Solche Verarztungen fanden normalerweise dort statt. Mutter hatte den Desinfektionsspray in der Hand.
»Komm, das muss gleich gemacht werden. Möchtest du selbst sprühen oder soll ich das tun?«
»Gib her, ich mach das lieber selbst!«
Melli war nicht mehr in der Lage, einen freundlichen Ton aufzulegen, was natürlich gleich quittiert wurde. »Sag mal, was ist denn mit dir los? Wie redest du denn mit mir? Sprüh dich ein und erzähle mir dann, warum du so eine furchtbare Laune hast!«
Melli sprühte sich auf den linken Arm
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