Melli lief über den Platz zum Schulgebäude.
Massen von Schülern strömten auf das Mauseloch von Tür zu, durch die sie alle in die Schule hinein kamen. Vor dem schwarzen Brett in der Eingangshalle hing ein Plan, auf dem die Zuordnung der Klassen zu den jeweiligen Klassenzimmern stand.
»Wirklich clever gemacht!«, dachte Melli.
Ein paar hundert Schüler versuchten einen Blick auf das Schwarze Brett zu werfen.
»Bis ich da dran komme, ist die Schule vermutlich halb gelaufen!«, murmelte sie vor sich hin.
Ihre Laune sank noch tiefer, obwohl sie geglaubt hatte, dass das nicht mehr möglich war.
»Hey Melli«, eine bekannte Stimme, direkt hinter ihr.
»Hi Andi!«
Melli fühlte sich gleich ein bisschen besser. In dieser Menge von Schülern endlich ein vertrautes Gesicht. Andi war aus Melli’s alter Klasse. Ein Typ, den jeder auf Anhieb mochte. Super nett und meistens gut drauf. Optisch war Andi eher Durchschnitt: Blaue Augen, mittelblonde, glatte Haare, schlank, wenn auch nicht gerade dürr, aber eben nicht gerade das, wovon sich Mädchen in ihrer traumlosen Mittagszeit in einen gefühlstechnischen Aufruhr versetzen ließen. Er war mehr ›every girls best friend‹. Ein Kumpel, mit dem man um die Ecke ziehen konnte, aber eben kein Lover. In der Schule war er in den meisten Fächern gut, zwar kein Streber – Andi war eher ein Denker. Wie Melli war er für sein Alter sehr groß. Er überragte sie um einen Kopf, was Melli auch sympathisch war. Das kaschierte ihre eigene Länge etwas.
»Hast du eine Ahnung, wo wir hin müssen?«
Glücklicherweise waren sie beide in dieselbe Klasse gekommen, das hatten sie schon in den Ferien miteinander abgecheckt.
»Klaro, ich war schon vor einer halben Stunde da. Dachte mir, dass es hier so zugehen wird.«
Melli’s Laune hob sich wieder. So musste sie auch nicht alleine in die Klasse marschieren. Davor hatte sie den größten Horror gehabt. Dieses Abtaxieren, das Getuschel, das sie immer auf sich bezog, war für sie Spießrutenlauf pur.
»Unsere Klasse ist in Zimmer 301 untergebracht, die ›drei‹ steht für das dritte Obergeschoss und die ›eins‹ für das erste Zimmer auf dem Flur, ich war vorhin schon dort. Komm einfach mit.«
Melli lief hinter Andi her, der zielstrebig die Treppen hinauf lief, Die Tür des besagten ersten Zimmers auf diesem Flur stand weit auf. Andi marschierte hinein, »Morgen!«
Ein Raunen ging durch die Handvoll Schüler, die schon in der Klasse waren, was wohl als Erwiderung gedacht war. Melli setzte ihr Gesicht ›unbeteiligt – gelangweilt‹ auf. Das brachte die nötige Distanz, die sie für sich benötigte. Die hintersten Tische im Raum waren von einer Mädchengruppe beschlagnahmt worden. Als Melli einen Blick in die Richtung warf, sah sie, dass sie von denen ziemlich unfreundlich gescannt wurde. Wohl alle nur ein linkes Paar Füße zum Aufstehen gefunden, dachte Melli. Aber ihr ging es ja auch so. Trotzdem konnte Melli diese komplette Gruppe auf Anhieb nicht leiden. Und daran war nicht nur ihr unfreundliches Gehabe schuld. Die hatten tatsächlich allesamt einen Fastfood-Speckgürtel um die Hüften, bei gleichzeitigem Tragen von hautengen T-Shirts! Das konnte Melli gar nicht ab. Wie gefüllter Darm sah das aus, Igitt. Wie es kam, dass ausgerechnet die, die solche Klamotten nicht tragen sollten, geradezu versessen waren, ihren Speck so zur Schau zu stellen, ging über ihr Fassungsvermögen. Kopfschüttelnd wandte sie sich an Andi: »Die Michelin-Männchen-Fraktion ist auch schon da«, raunte sie ihm zu, worauf dieser lächelte und meinte, »Möchtest du dich gleich am ersten Tag von deiner allerliebsten Seite zeigen? Das kann ja mal heiter werden.«
Melli zuckte mit den Schultern und setzte sich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe. Andi stellte seine Tasche auf den Stuhl daneben und ging auf eine Gruppe Jungs zu, die sich schon angeregt unterhielten.
»Hi Jonas, das ist ja super, dass du auch hier gelandet bist!« Andi freute sich sichtlich, ein weiteres bekanntes Gesicht zu sehen.
»Cool, ist ja echt krass, dass wir in die gleiche Klasse gekommen sind! Echt fett!«
Jonas war offensichtlich genauso begeistert. Melli wandte sich ab, um zwei Mädchen zu beobachten, die etwas schüchtern das Klassenzimmer betraten. In der Michelin-Männchen-Ecke ging gleich wieder unfreundliches Getuschel los. Blöde Zicken, dachte Melli und lies sich zu einem Lächeln Richtung der beiden Mädchen hinreißen. Diese lächelten sichtlich erleichtert zurück und setzen sich an einen Tisch in der Reihe vor ihnen. Wer setzt sich freiwillig in die erste Reihe? Melli brauchte etwas Distanz zu den Lehrern.
Andi kam zu ihr zurück geschlendert und setzte sich neben sie auf den Stuhl.
»Toll, dass Jonas auch hier ist, der ist echt o. k., ich kenne ihn vom Amphibien-Projekt.« Das war das Thema, das man mit Andi nie anschneiden durfte, weil er dann in seinem Element und kaum zu bremsen war. Melli mochte Frösche und Molche und was es sonst noch im Teich gab, ... aber nicht so! Andi beobachtete in seiner Freizeit diese kleinen Tierchen, war immer beim Froschzaun aufstellen dabei und sammelte die Kröten und Frösche in ihrer Huckepack-Umarmung zwei bis dreimal am Tag im Frosch-Zaun ein und trug sie dann über die Straße. Wenn’s Spaß und glücklich macht. Melli war einmal dabei gewesen, das reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Wenn Andi ihr nicht jedes zusammengeklebte Pärchen, mitsamt seinen Lebensgewohnheiten erklärt hätte, so hätte das ganz lustig sein können. Aber so wurde es mehr eine unfreiwillige Bio-Stunde. Seitdem mied Melli dieses Thema ganz bewusst. Aber da jetzt sein Lurchi-Freund Jonas in dieser Klasse aufgetaucht war, bedeutete das auf jeden Fall, dass ihr jede Menge solcher Fachsimpeleien bevorstanden.
Im Klassenzimmer standen die Tische in vier Reihen, immer acht Schüler pro Reihe. Jonas setzte sich auf die andere Seite von Andi. Daneben ließen sich die drei Jungs nieder, die in der Gruppe mit Jonas und Andi gestanden hatten. Melli fühlte sich auf einen Schlag wie auf die Seite gestellt. Das wurde auch nicht besser, als die restlichen Schüler tröpfchenweise eintrudelten. Die Plätze waren schließlich alle belegt, bis auf die beiden neben ihr. Auch gut – so konnte sie sich etwas ausbreiten. Ein Gong verkündete, dass die Schulstunde begonnen hatte. Jetzt bin ich gespannt auf unseren Klassenlehrer, dachte Melli. In diesem Moment ging die Tür auf und eine Lehrerin kam herein.
»Guten Morgen, mein Name ist Schildknecht.«
Sie schrieb ihren Namen an die Tafel
»Sie befinden sich in der Klasse BF1BW.«
Auch diese seltsame Klassenbezeichnung wurde auf der Tafel verewigt. Dann folgte ein unglaublicher Monolog, von dem Melli fast nichts mitbekam. Sie betrachtete die Lehrerin und fand sie gar nicht so übel. Nicht älter als 30 Jahre und mit ihren rotgefärbten kurzen Locken, die von einem smaragdgrünen Tuch umschlungen waren, Jeans, T-Shirt und mindestens vier Ketten aus Holzperlen um den Hals, sah sie wie eine gut gestylte Ökotante aus. Auf jeden Fall sympathisch. Melli bemerkte, dass die anderen Schüler ihre Taschen nach Schreibmaterial durchsuchten. Das brachte sie aus ihren Überlegungen zurück. Melli hatte die Fähigkeit, sich aus jedem Gespräch oder Vortrag auszubeamen. Sie verfolgte solange ihre eigenen Gedankengänge, bis sie durch irgendetwas gestört wurde. Wie jetzt durch die Unruhe im Klassenzimmer. Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie ausschließlich damit, alles Organisatorische aufzuschreiben. Frau Schildknecht vertrat nämlich die Meinung, was man selbst aufschreibt, bleibt schon mal in irgendeiner Ecke des Gehirns haften und man kann sich das Ganze besser merken. Also nichts mit kopierten Texten, alles selber schreiben, stöhnte es in Melli.
Die Bücher wurden in den nächsten zwei Stunden ausgegeben und Melli war fassungslos, weil die Tasche, die sie sich mitgenommen hatte, für diese Mengen an Büchern viel zu klein war. Super! Wenn sie es objektiv betrachtete, war es auch völlig hirnrissig anzunehmen, dass in ihre Tasche alle Bücher für die vielen Fächer hineinpassen könnten. Wie sollte sie die jetzt mit dem Bus nach Hause bekommen? Heute hatten alle Schüler zur selben Zeit aus, sodass die Busse megavoll waren. In ihren Gedanken war sie nun schon das zweite Mal an diesem Morgen bei dunkelgrau angelangt. Die Stimme von Frau Schildknecht riss sie aus ihren Überlegungen.
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