»Scheiße, das brennt wie verrückt!!«
»Das geht gleich vorbei. Einmal die Zähne zusammenbeißen, dann hast du das Schlimmste hinter dir.«
Melli sprühte weiter.
»Da kommt jetzt aber keine Creme mehr darauf, das kann ich dir sagen! Das muss reichen!«
Ihre Mum gab auf und stellte die vorbereiteten Dosen wieder in den Schrank.
»Ich habe uns Pizza mitgebracht, und während sie im Ofen warm wird, erzählst du mir, was heute so schlimm war.«
Melli erzählte ihrer Mutter alles, bis auf ihre Reaktion auf Tassilo. Tatsächlich gab sich ihre Mum zufrieden.
»Ich gehe heute Mittag bei Frau Stump vorbei und laufe eine Runde mit Goliat«, informierte Melli ihre Mutter. »Ich habe dreimal in der Woche Mittagsschule, da wird das mit Goliat ziemlich eng!«
»Schule geht vor, das ist klar«, meinte ihre Mum, »aber zwischendurch, um den Kopf zum Lernen wieder frei zu bekommen, ist es sicher nicht dumm, etwas an die frische Luft zu gehen und Frau Stump mit dem Untier zu helfen.«
»Goliat« ist kein Untier, er ist nur etwas groß geraten!«, verteidigte Melli ihren vierbeinigen Freund. »Er hat noch nie irgendjemandem etwas getan.«
Vor einem Jahr, war Melli zufällig Frau Stump und ihrem riesigen Hund begegnet, der treffenderweise auf den Namen Goliat hörte, oder eben nicht, wie an diesem Tag. Goliat hatte die ältere Frau quer über die Straße gezogen, weil auf der anderen Seite eine Katze lief. Melli hatte sofort beherzt in die Hundeleine gegriffen und zusammen hatten sie den Hund festhalten können. Seitdem lief Melli ein paarmal in der Woche mit Goliat spazieren. Eine weitere prima Gelegenheit ihren Gedanken in Ruhe nachzuhängen und sich ein paarmal in der Woche komplett auszuklinken. Goliat trug sein Name nicht zu Unrecht: Er war ein Kind der Liebe zwischen zwei ziemlich großen Hunden. Seine Mama, eine Berner Sennenhündin hatte sich einen Irischen Wolfshund als Lover auserkoren. Das Ergebnis dieser Romanze war ein ziemlich wild aussehender großer Vierbeiner. Melli fand ihn cool. Wenn sie mit ihm unterwegs war, wechselten die Menschen die Straßenseite, weil sie ihm nicht entgegen gehen wollten. Das gab ein Gefühl von Stärke, wenn so ein Riesentier neben einem herlief. Alleine wäre sie sicher nicht so oft im Wald unterwegs gewesen, aber mit Goliat als Begleiter war das perfekt.
Nachdem sie ihrer Mutter schnell in der Küche beim Aufräumen geholfen hatte, holte Melli Goliat ab und lief über Wiesenwege zum nahen Wald. Sie genoss den kühleren Wald und den Schatten der Bäume. Ihr Ziel war ein Bach, der am Waldrand entlang lief, in dessen Sandbett Goliat wunderbar nach Herzenslust planschen konnte. Melli zog ihre Sneakers aus und lief auch etwas im seichten Wasser herum. Diese Abkühlung tat wirklich gut. Doch dann kam Goliat angesprungen und schüttelte sich genau vor ihr das Wasser aus dem Fell. Das war dann doch zu viel Abkühlung auf einmal!
»Prima, Goliat, jetzt sehe ich aus wie durch den Bach gezogen! Du Affe!«
Goliat ließ sich von dieser Ansage nicht beeindrucken, ganz im Gegenteil: Er sprang ausgelassen um Melli herum, sodass diese komplett nass war. Melli musste wider Willen lachen.
»Komm du Grobmotoriker, gehen wir heim! Ich habe ja Glück, dass es so heiß ist, vielleicht bin ich wieder trocken, bis wir zuhause sind.«
Wenigstens hatte ihr der Spaziergang aus den trüben Gedanken geholfen. Doch das wiedergewonnene Gefühl von innerer Harmonie war ganz schnell vorbei, als sie auf dem Rückweg zwei Mädchen begegnete, die sie auch auf der neuen Schule gesehen hatte. Sie sahen älter aus als Melli und gehörten ganz klar zur Styling-Fraktion. Geglättete Haare in zwei bis drei Farben, Make-up-Vollverschalung mit üblicher Kriegsbemalung. Push-ups und 10 cm Absätze unter die Füße genagelt, vervollständigten das Bild. Melli fragte sich, ob die beiden wussten, dass sie mit ihren künstlichen Gesichtern wie Puppen aussahen. Ob die sich auch zum Schlafen so zurecht machten? Und wenn eine von denen einen Freund hatten, wann kam da der Augenblick der Wahrheit? Ungeschminkt, mindestens fünf Zentimeter kürzer und vor allem nur noch mit der halben Oberweite gestehen zu müssen, dass alles nur toll aussah, weil sie ein volles Body-Tuning dran gebaut hatten? Wie peinlich! Da erkannte bestimmt mancher Kerl beim Aufwachen das Mädchen vom Abend vorher nicht mehr!
Die aufgedonnerten Mädchen schauten mit einem Blick, der wohl Verachtung bedeuten sollte, zu Melli hinüber. Klar, Melli sah immer noch aus, wie eine gewaschene Katze! Und Goliat sah nicht viel besser aus. Aber Melli fühlte sich wunderbar.
Nach diesem kurzen Blickwechsel, wandten sich die zwei aus der Styling-Fraktion ab und stelzten auf ihren High Heels davon. Wenn doch nur mal eine dieser Stelzen abkrachen würde, dachte Melli. Das wäre ein Fest. Melli war zu groß, als dass sie Schuhe mit Absätzen anzog. Es soll ja auch ganz schön ungesund sein. Andererseits spürte sie auch etwas Traurigkeit. Kaum ein Junge schaute sie zweimal an, obwohl sie nicht schlecht aussah. Musste man sich wirklich so aufpushen, um an einen Freund zu kommen? Das konnte doch nicht sein, oder? Wer sie nur mit aufgetakeltem Äußeren wollte, war doch so hormongesteuert, dass das Hirn gar nicht benutzt wurde! Und was sollte sie mit so einem Kerl? Sie hatte sich noch nicht wirklich damit befasst, wie einer sein musste, damit sie sich in ihn verlieben konnte. Auf jeden Fall musste er normal sein. Klar, er sollte jetzt nicht gerade hässlich sein. Bei diesem Gedanken hatte sie ein schlechtes Gewissen. War das nicht auch sehr oberflächlich? Verliebte man sich nicht einfach so? Egal wie der andere aussah? Es gab Menschen, die sich sehr lieb hatten, mit denen es Mutter Natur nicht so gut gemeint hatte. Schönheit war definitiv kein Garant für Glück. Vielleicht sogar eher für das Gegenteil. Und wenn man alt wurde, kam das mit dem hässlich werden ganz von alleine, dachte sie. Und dann schienen sich die Menschen wegen ganz anderer Dinge lieb zu haben. Irgendwann war Melli aufgefallen, dass es Menschen gab, die zwar nicht gerade hübsch, aber durch ihre Art einfach toll waren, sodass man sie einfach gern haben musste. Und Melli wollte dies in ihrer Beziehung von Anfang an so. Ihr Großvater hatte einmal gesagt, ›Schönheit vergeht, aber dumm bleibt dumm‹. Dieser Satz zauberte wieder ein Lachen in ihr Gesicht. Genau, wenn alle um sie herum so doof waren und nicht sahen, dass diese Äußerlichkeiten keinen wirklichen Wert und damit auch keine Basis für eine Freundschaft sein konnten, dann war das eben so. Sie würde sich in diesem Punkt nie ändern. Dass Jungs in ihrem Alter wohl nur auf overstylte Tussies standen, mit denen sie in die Kiste gehen wollten, war nicht ihr Problem. Sie wollte mit keinem von diesen Hirnis etwas anfangen, und das Beste war, beschloss sie im Geiste, sich mit keinem von denen einzulassen!
Dieser Tag war wirklich ein Grübeltag! Melli kam dabei aber zu dem Schluss, dass sie lieber mit dem nicht mehr salonfähigen Goliat durch den Wald streifte, als sich für andere querzulegen, damit diese sie akzeptierten. Denn dann wäre sie nicht mehr sich selbst, sondern würde eine Rolle spielen. Und diese Rolle, die gespielte Melli, die würde dann vermutlich akzeptiert werden. Nein danke, das musste sie sich nicht geben!
Er fing gar nicht so schlecht an, der nächste Tag. Sie saß im Bus neben Andi, hatte ihre Schulsachen auf die Reihe gebracht, und das Wetter bemühte sich auch, ihre Laune auf Vordermann zu bringen. Sonnenschein pur. Keine Wolke am blauen Himmel. Melli hatte sich eine verwaschene Jeans, Ballerinas und ein Long-shirt mit Gürtel angezogen. Ihre langen Haare hatte sie offen gelassen, für den Fall, dass sie wieder ein Versteck benötigte.
Als sie ins Klassenzimmer kam, saß Tassilo schon im Klassenzimmer. Er hatte sich heute auf den Platz direkt neben Melli gesetzt.
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