Eine tiefe Melancholie bemächtigte sich seiner. Fast jeder junge Mann wird von seiner Familie stürmisch empfangen, wenn er nach einer langen Zeit im Ausland wieder in seine Heimat zurückkehrt. Und er? Er fühlte sich rastlos wie ein Vagabund und einsam wie ein mutterloses Kind. Er war wie ein Baum ohne Wurzeln, der sich selbst entwurzelt hatte. War er nicht doch zu weit gegangen? Es war vollkommen verständlich, dass er als tatendurstiger, wissbegieriger und weltoffener junger Mann seiner spießigen Stadt den Rücken gekehrt hatte. Musste er jedoch den Kontakt zu seinen Eltern völlig abbrechen? Hatte er auch nur ein einziges Mal daran gedacht, wie sehr er sie durch diese Untat verletzt hatte? Gewissensbisse plagten ihn. Sein Gewissen verfolgte ihn noch mehr, als er an Lesley und Eliza dachte. Hatte er die Hoffnung auf ein glückliches Familienleben nicht viel zu schnell aufgegeben? Vielleicht hatte nur der Alltagsstress die Gefühle erkalten lassen und unter der dünnen Eisschicht brannte immer noch das Feuer der Liebe. Am meisten schmerzte ihn jedoch, dass er Diwata seine Vergangenheit verschwiegen hatte. Nur aus Angst, sie zu verlieren!
Mitten in seinen finsteren Gedanken hörte er, wie laute Silvesterraketen explodierten. Er öffnete die Gardine seines Fensters und blickte auf ein farbenprächtiges Feuerwerk am nächtlichen Winterhimmel. Fröhliche Stimmen betrunkener Menschen riefen: „Frohes neues Jahr.“ Kurze Zeit vergaß er seine Sorgen. Als die Knallerei vorüber war, wollte gerade wieder ins Bett gehen. Da klingelte das Telefon. Es war Diwata, die ihm mit leiser, trauriger Stimme ein frohes neues Jahr wünschte. Lange Zeit schwiegen sie sich an, bis sie ihm vorwarf, warum er nicht wenigstens bis Januar bei ihr geblieben sei. Sie hätten zusammen Silvester feiern können. „Ich vermisse dich so sehr“, sagte sie, bevor sie in Tränen ausbrach und schluchzte. Bis kurz vor Morgengrauen konnte er nicht einschlafen. Solch einen kläglichen Silvesterabend hatte er noch nie erlebt, doch er war nicht abergläubisch. Das traurige Ende eines fantastischen Jahres muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das kommende Jahr schlecht wird, dachte er.
In der Nachthatte es geschneit. Die Temperatur war noch eisiger als bei seiner Ankunft am Vorabend. Er saß im ICE nach Hintertupfingen, jenem Ort, an dem seine Eltern lebten. Zusammen mit wenigen anderen Fahrgästen raste er an dick verschneiten Wäldern und Hügeln vorbei. Er blickte aus dem Fenster und sah eine wunderbare Winterlandschaft. Deutschland - ein Wintermärchen, dachte er. Die Reisegäste in seinem Waggon schienen die Reise nicht wirklich zu genießen. Eiskalte Gesichter vergruben sich in Zeitungen, keiner sagte ein Wort. Er beschloss, die anderen zu ignorieren und erfreute sich an der bezaubernden Natur, die jetzt im Sonnenlicht erstrahlte. Die Fahrt war wie eine Entschädigung für die gänzlich misslungene Silvesternacht. Welch ein Kontrast zur tropischen Welt der Philippinen!
Schneller als gedacht erreichten sie jenen Ort, den Marian nie wieder sehen wollte. Doch er musste sich eingestehen: Im Lichte der mittäglichen Wintersonne und begraben unter Schneemassen sah sogar Hintertupfingen hübsch aus, so sehr er diese Stadt auch verabscheute.
Obwohl die Luft eisig war, wurde es ihm seines Gepäcks wegen warm. Schwitzend schob er seine großen und schweren Koffer zum Elternhaus. Er hätte ein Taxi nehmen können, doch da auf den Straßen kaum ein Auto fuhr, wollte er die frische Luft einatmen. Es war eine Wohltat nach dem Gestank, den er jeden Tag in Manila ertragen musste. Er war jedoch nicht warm genug angezogen und sein dreißigminütiger Fußmarsch mit zwei schweren Koffern sollte bald fatale gesundheitliche Folgen haben.
Mit pochendem Herzenstand er vor dem biederen Reihenhaus seiner Eltern, vor dem sich jetzt Schneeberge häuften. Wie würden sie ihren verschwundenen Sohn empfangen? Würde Papa sagen, er sei nicht mehr sein Sohn, weil er seine Eltern im Streit verlassen habe? Es kostete ihn einige Überwindung zu klingeln. Als sein Vater die Tür öffnete, traute er seinen Augen nicht. War das wirklich sein Sohn? Schließlich sagte er nur: „Unglaublich!“
Seine Stimme klang weder verbittert noch böse. Marian trat ein und wurde von seiner Mutter umarmt. Freudentränen liefen über ihr Gesicht: „Wir haben dich so vermisst. Es war wirklich nicht nett von dir, einfach abzuhauen. Doch jetzt bist du wieder da!“
Marian sah, dass seine Eltern Besuch hatten. Nachbarn und Freunde hatten mit ihnen Silvester gefeiert. Alle saßen am großen Holztisch und aßen Maultaschensuppe. Anschließend servierte Mutti Spätzle mit Rindergulasch. Er hatte das Gefühl, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. In den vergangenen siebeneinhalb Jahren schien sich zu Hause nichts verändert zu haben. Alles war noch genau wie damals im August 1984, als er wutentbrannt sein Elternhaus verlassen hatte: dieselben Holzmöbel, die gleichen Sessel aus schwarzem Leder, dieselben weißen Wände, die gleichen kitschigen Bilder und Hirschgeweihe an den Wänden, derselbe Kamin. In der Ecke stand sogar die gleiche Weihnachtskrippe und auch der Weihnachtsbaum war wie üblich mit bunten Kugeln und Lametta geschmückt. „Mein Gott!“, dachte er nur.
Er war froh, dass der Besuch lange blieb. Dadurch musste er nicht ausführlich von seinem wilden Leben der letzten Jahre berichten. Er sprach fast ausschließlich über seine erfolgreiche Tätigkeit als Finanzberater. Seine Beziehungen erwähnte er nur nebenbei. Er wollte auf keinen Fall bereits am ersten Tag den Eindruck erwecken, irgendwas sei nicht in Ordnung.
Am Abend, nachdem Freunde und Nachbarn gegangen waren, fühlte sich Marian plötzlich sehr unwohl. Er hatte Glieder- und Halsschmerzen sowie hohes Fieber. In der Nacht schlief er sehr schlecht. Am darauffolgenden Tag hustete er. Der Husten wurde von Tag zu Tag stärker, bis er sich schließlich zum Arzt schleppte. „Lungenentzündung“, diagnostizierte dieser trocken. „Hier die Rezepte für Ihr Antibiotikum und für den Hustensaft.“
Unglaublich, wie verweichlicht er war. Kaum war er wieder in seinem Land, wurde er krank. Die klirrende Kälte hatte ihm sicher nicht gut getan. Als er die Arztpraxis verließ, ärgerte er sich noch mehr. Es hatte erneut angefangen, kräftig zu schneien. Für die nächsten Tage hatte der Wetterbericht sonniges, kaltes Winterwetter vorausgesagt. Wie gerne wäre er auf den Loipen der verschneiten Wäldern und Hügeln in der Umgebung Ski gelaufen. Stattdessen musste er nun das Bett hüten und ausgerechnet in der Nähe derer sein, vor denen er davongelaufen war. Welche Ironie des Schicksals! Sein Los schien sich über ihn lustig zu machen. Schlecht gelaunt ging er zur Apotheke, kaufte seine Medikamente und lief zu seinem Elternhaus zurück.
Wadenwickel, heiße Zitrone, Infrarotstrahlen, heiße Bäder, Erkältungstees…. Er versuchte mit allen Hausmitteln, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden. Doch eine mittelschwere Lungenentzündung kann man auch mit Antibiotikum nicht so schnell heilen. Er musste zwei Wochen in Hintertupfingen bleiben. Seine Mutter kümmerte sich rührend um ihn, obwohl er seine Eltern nicht nett behandelt hatte. Trotz allem war er ihr Sohn. Marian war die Fürsorge seiner Mutter hingegen peinlich. Mit 26 Jahren fühlte er sich wieder wie ein Muttersöhnchen.
Eines Morgens, als es Marian schon wieder etwas besser ging, klingelte das Telefon. Es war Diwata. Marians Mutter, die nicht wusste, wer die junge Frau am Telefon war, sagte, dass ihr Sohn sehr krank sei und nicht mit ihr sprechen könne. Sie öffnete die Tür des Krankenzimmers und sagte: „Eine Frau mit einem seltsamen Namen hat angerufen. Eine sogenannte Di…Di…Diva….Diva….“ „Diwata“, korrigierte sie Marian. Er musste über die Schwierigkeiten lachen, die seine Mutter mit der Aussprache des Namens Diwata hatte. Besonders amüsant fand er, dass sie seine zukünftige Frau offensichtlich für eine Diva hielt. Beiläufig bemerkte er: „Sie ist meine zukünftige Frau.“ Er sagte es wie etwas Nebensächliches, als wäre diese Nachricht das Normalste von der Welt. Seine Mutter sah aus, als wäre sie aus allen Wolken gefallen:
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