„Ich muss ihnen mitteilen“, begann Pepe, „dass ihre Frau Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist.“ Dr. Lechner sah auf den hellen Parkettboden. Er saß, ebenso wie Palmayer, mit leicht gespreizten Beinen da und hatte die Ellbogen auf die graue Wollstoffhose gestützt. Über dem gestreiften Hemd trug er einen blauen Blazer mit Goldknöpfen und seinen hellbeigen Ballonseidenmantel, den er noch nicht abgelegt hatte. „Ist das ihr Blut im Flur?“, fragte Lechner und sah den Kriminalbeamten an. „Das ist es.“, bestätigte Pepe. „Ist sie?“ Der Ehemann wollte die tragische Möglichkeit des Ablebens seiner Frau nicht aussprechen. Er ließ die Frage unvollendet. Palmayer wusste, was der Mann meinte. Er sagte: „Sie ist Tod.“ Der ältere Herr musste mit den Tatsachen konfrontiert werden. „Wie ist das passiert?“, fragte Lechner weiter. „Soweit wir herausgefunden haben, wurde eingebrochen. Wir vermuten, dass der Täter ihre Frau überrascht hat. Oder sie ihn. Genaues wissen wir noch nicht. Wir arbeiten daran. Sie wurde mit einem scharfen Gegenstand, es könnte ein Messer gewesen sein, getötet. Das muss erst bestätigt werden.“ Lechner nickte. Er wusste, dass es noch zu früh für Einzelheiten war. Er hatte im Berufsleben mit polizeilichen Ermittlungen zu tun gehabt. Als Beobachter. Dass es ihn eines Tages beträfe, hatte er nicht gedacht. „Ermitteln sie. Und fassen sie den Täter.“, sagte er verständnisvoll und mit Nachdruck. In den Augen spiegelten sich Trauer, Ungläubigkeit und Wut. Ein Ausdruck, den Palmayer gut kannte. In seiner Laufbahn beim Landeskriminalamt hatte er öfter schlechte Nachrichten überbringen müssen. Er musste dem Mann Fragen stellen. Das ließe sich nicht vermeiden. In diesem Moment kam Wimmer mit einem Glas Wasser ins Wohnzimmer. Er gab es Lechner, der sich bedankte, kurz nippte und es auf den Couchtisch stellte. Palmayer beobachtete, ob dem älteren Herrn das Fehlen des Buches auffiel. Entweder war er zu aufgebracht um es zu bemerken, oder es ging ihm nicht ab, weil es woanders hingehörte. Franz Wimmer setzte sich neben seinen Kollegen und zückte erneut den Notizblock. Er notierte alles, was gesagt wurde. Für den späteren Bericht, wie er erklärte, wenn Pepe ihn darauf ansprach. Palmayer schrieb die Aussagen aus dem Gedächtnis. Sich die wesentlichen Einzelheiten zu merken, gehörte für ihn zum Berufsbild des Kriminalbeamten. Er war auf solche Hilfsmittel nicht angewiesen. Als Wimmer bereit war, fuhr Pepe fort.
„Herr Dr. Lechner, ist es in Ordnung, wenn ich ihnen ein paar Fragen stelle?“, leitete er das Gespräch ein. „Fragen sie“, antwortete der Mann. „Was machten sie und ihre Frau heute? Wie sah ihr Tag aus?“, war die erste Erkundigung. Die Antwort war: „Wir haben nichts Außergewöhnliches gemacht, für einen Freitag. Silke, meine Frau, sollte in der Arbeit sein. Sie geht spät weg, weil sie erst um neun beginnt. Um diese Zeit bin ich unterwegs. Ich gehe täglich in den Lions Club, für den ich mich engagiere. Ich bin dort für Seniorenarbeit zuständig. Mit achtundsechzig ist das ein angemessener Arbeitsbereich, wie ich finde. Nach der Pensionierung suchte ich mir eine Beschäftigung, die ich machen wollte, bis meine Frau pensioniert ist. Sie ist erst zweiundfünfzig.“ Palmayer nickte. Er war nicht darauf aus Lechner zu verbessern. Seine Frau WAR erst zweiundfünfzig. Jetzt wird es nichts mehr mit Reisen oder einem gemeinsamen Engagement im Club, dachte Pepe.
„Ihre Frau arbeitete im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Ist das richtig? Was machte sie dort?“, hackte Palmayer ein. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, um ehrlich zu sein. Wir sprachen wenig über die Arbeit, da vieles unter Geheimhaltung gefallen ist, an die wir uns hielten. Bevor wir dem Partner Dinge vorenthalten mussten, haben wir lieber nicht darüber geredet“, antwortete Lechner. „Ist ihnen bekannt, ob sie aufgrund ihrer Tätigkeit Feinde hatte?“, wollte Pepe wissen. „Wieso Feinde? Ich dachte, es wäre ein Einbruch?“, war der Ehemann überrascht. „Wir müssen allen Möglichkeiten nachgehen.“, erklärte der Kriminalbeamte. „Ich verstehe. Zu ihrer Frage: Meines Wissens hatte Silke keine Feinde. Arbeitsbedingt kann es sein, dass sie sich in bestimmten Bereichen keine Freunde gemacht hat. Wie bei ihnen. Sie als Polizeibeamter kennen das, vermute ich.“ Palmayer nickte. Sie mussten im beruflichen Umfeld recherchieren. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sich der Täter dort fände.
„Sie sagten, dass ihre Frau später als sie das Haus verlässt. Wann ist das?“ Pepe grenzte durch diese Information die Tatzeit ein. „Ich gehe gegen Sieben weg. Ich frühstücke bei einem Bäcker mit einem kleinen Kaffee in der Nähe des Clubs. Dort gibt es gute Marillen Plunder. Es könnte sein, dass ich gerade einen gegessen habe, als das Unglück passierte.“ Er machte eine Pause, die Pepe zuließ. Der Mann äße im Leben keinen Plunder mehr, dachte der Polizist. Lechner fasste sich und fuhr fort: „Meine Frau verlässt das Haus gegen acht, damit sie um neun im Büro ist.“ Um zehn wurde sie gefunden. Um acht wollte sie das Haus verlassen und wurde überrascht. Die Tatzeit war zwischen acht und zehn. Eher um acht, ließ Palmayer die Gedanken schweifen. Er nickte, wie um diese Überlegungen zu bestätigen. Er schaute zu seinem Kollegen. Der klappte das Notizbuch zu. Wimmer hatte keine Fragen mehr, genauso wenig wie er. Und lange hält Lechner nicht mehr durch, dachte Pepe. „Gut, das war es fürs Erste. Halten sie sich bitte zu unserer Verfügung. Die Kollegen werden noch an sie herantreten, um ihre Personalien aufzunehmen. Sobald die Spurensicherung fertig ist, lassen wir sie in Ruhe. Wir beide dürfen uns jetzt verabschieden.“ Alle drei standen auf. Lechner gab den Polizisten die Hand und bedankte sich. Pepe sprach ihm sein Beileid aus. Wimmer und er grüßten und verließen das Haus.
„Der Mann war gefasst“, sagte Wimmer, als sie in den Garten traten und zum schmiedeeisernen Gartentor gingen. „Ich glaube, es hat ihn getroffen. Er hat sich zusammengerissen. Da suchst du dir eine Frau, die sechzehn Jahre jünger ist, um nicht einsam zu sein, und verlierst sie wegen jemand, der sie umbringt. Für null.“ Mit einem „Hm.“ stimmte Wimmer dem Kollegen zu. „Meinst du, der Mord hat mit ihrem Job beim Bundesamt zu tun?“, fragte der Gruppeninspektor Pepe, als sie den Dienstwagen, einen dunkelroten Skoda Superb, erreichten. „Eher unwahrscheinlich. Viele werden es denken. Zuallererst die Presse. Für die ist das ein gefundenes Fressen“, antwortete Palmayer. „Apropos Fressen. Ich hab Hunger. Besorgen wir uns Essen.“, fuhr er fort. Wimmer stimmte zu und sie öffneten die Autotüren, als Pepes Handy klingelte. Er hatte den schrillen Klingelton, der die alten Telefone nachahmte. Er war unüberhörbar. Palmayer sah auf das Display. Claudia Büro stand darauf. Pepe nahm das Gespräch an. „Was gibt’s?“, fragte er. „Hier ist Claudia“, kam die junge Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Du wirst es nicht glauben, Pepe, mich hat gerade eine Frau Dannemann-Wagner angerufen. Ihres Zeichens Landespolizeidirektorin von Wien. Sie will dich umgehend in ihrem Büro sprechen. Keine Ahnung warum.“ Palmayer war nicht erstaunt. Er hatte sich gedacht, dass der Fall Wellen schlüge. Die Direktorin des Bundesamts war keine kleine Beamtin und das Amt war eine nachgeordnete Behörde des Innenministeriums. Desselben Ministeriums, dem die Landespolizeidirektion angehörte. Und in letzter Konsequenz er. Dass die Wellen derart hoch waren, hatte er nicht vermutet. „Gib mir die genaue Zimmernummer meiner obersten Chefin“, sagte er ins Telefon. Das Essen musste warten, dachte er.
*
Die Landespolizeidirektion Wien war in der Wiener Innenstatt, am Schottenring, einem Teilabschnitt der Ringstraße. Der Skoda parkte sich in der Nebenfahrbahn direkt vor dem riesigen, blockartigen Gebäude ein. In die Tiefgarage zu fahren war Pepe zu umständlich, zumal er den Besuch kurz halten wollte. Palmayer und Wimmer standen vor dem dunkelgrauen Eingangsbereich, der, wie die ganze Fassade im untersten Geschoss, aus Granitplatten bestand. Zwischen dem Untergeschoss und dem ebenso grauen Himmel ragte das Gebäude sechs Stockwerke in die Höhe und die helle Vorderseite konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine Bausünde aus den späten Sechzigerjahren handelte. Ein Block aus Stahlbeton. Nach dem Eintreten wiesen sie sich als Kriminalbeamte aus, womit sie sich den Sicherheitsvorkehrungen weitestgehend entziehen konnten. Ein Wachbeamter nahm ihre Dienstwaffen und tastete die beiden Polizisten ab. Nach seiner Arbeit händigte er ihnen die Waffen aus. Es war, um der Pflicht Genüge zu tun. Keine echte Überprüfung. Wie Pepe von Claudia wusste, befand sich das Büro der Direktorin im vierten Stock. Sie nahmen den Aufzug, der sie zur gewünschten Etage brachte. Nach dem Aussteigen informierte sich Wimmer auf einem Plan, der gegenüber der Aufzugstüre hing, in welche Richtung sie mussten. Bald hatten sie das richtige Zimmer gefunden.
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