Er sieht mich leicht ungläubig an und quetscht ein „Danke“ heraus. Ja, was ist los? Wenn du ein Weibchen willst, dass dich ansabbert, weil du so schön bist, versuch dein Glück an einem anderen Tisch.
Also so was macht mich wahnsinnig – reiche Schönlinge, die es gewohnt sind, alle Aufmerksamkeit der Welt zu kriegen. So, jetzt hast du Dorian Gray es geschafft, mir auch noch das letzte Drittel des Tages zu vermiesen, was sich erfahrungsgemäß in einer Metamorphose zu Mr. Hyde auswirkt, der schon an einigen nächtlichen Kühlschrank-Plünder-Aktionen beteiligt war. Ich bin sicher, Robert Louis Stevenson verzeiht mir diesen Missbrauch seiner Schöpfung.
Er macht Anstalten umzukehren, verharrt aber einen kurzen Moment in sich und es sieht so aus, als würde er überlegen. Scheiße… kann der doch Gedanken lesen?
Er dreht sich nochmals zu mir um und sieht mich an, diesmal mit einem anderen Ausdruck. Meine Alarmglocken läuten, denn es ist der Neandertaler-auf-der-Jagd-Blick.
Es ist jener Blick, der wieder meinen Urfilm aktiviert. Jener Blick, der meine sonst automatisch ablaufenden Körperfunktionen kurz deaktiviert und mich in einem Vakuum zurücklässt.
Dann kommt er näher, beugt sich leicht zu mir runter, als würde er mir etwas sagen wollen, das nur für mich bestimmt ist, was nicht für alle Ohren im Raum hörbar sein soll, deren Besitzerinnen übrigens gerade vor Neid ihre Fingernägel in die Tischplatten krallen.
Er ist so nahe, ich kann ihn sogar riechen – natürlich ein olfaktorischer Hochgenuss, der sich auf all meine Sinne auswirkt.
Binnen Millisekunden entschlüssle ich über diesen Kanal seine DNS und mein Unterbewusstsein weiß sofort, dass unser Erbgut kompatibel ist. Ich halt das nicht mehr aus. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht zu sabbern beginne und falle bereits in einen Tagtraum, in dem wir im Park picknicken …
„Würden Sie mir einen blasen?“ So flüsterleise Worte, die vor meinem Butterbrot eine Atombombe einschlagen lassen, reißen mich bedingungslos aus meiner Phantasie zurück in die erbarmungslose Realität.
Ding, ding, ding: Knock-out in der ersten Runde. Meine Hypothese über Anzugträger hat es nun geradewegs zur Theorie geschafft. Ach Dorian, was hätte nur aus uns werden können – du abartiger Arsch .
Zwar mit kurzer Verzögerung, jedoch blitzschnell, aktiviert sich mein In-Not-Programm. Konzipiert für genau solche Fälle.
Wenn (Anzugträger aufdringlich wird){
Dann
Gegenangriff;
}
Sonst
Flucht
}
Geistesgegenwärtig kommt mir mein Selbstverteidigungs-Eskalationstraining in den Sinn:
Tipp 1: Bleiben Sie ruhig – ich bin ruhig – noch
Tipp 2: Finger weg vom Alkohol – naja YouTube braucht doch auch irgendwo seine Videos her, aber keine Zeit für Alkohol
Tipp 3: Halten Sie sich die Notausgänge im Blick, falls Ihnen danach Prügel drohen – okay.
Mir fällt gerade auf, dass das scheiß Tipps sind. Das klang im Training damals logischer.
Egal, ich muss jetzt stark sein. Nicht nur für mich, nein, für alle Weibchen, bei denen er das schon abgezogen hat und die vielleicht gleich geflüchtet sind. Okay ich gebs zu, das war auch mein erster Gedanke, doch ich bin noch hier. Ich feile noch an meinem Plan …
Und da ist er, der rettende Gedanke – Logik ist etwas Befreiendes, ich sollte sie öfters anwenden. Ich schlage ihn natürlich mit seinen eigenen Waffen.
Ich setze meinen laszivsten Blick auf, der seinen Urfilm auslösen wird und blase (Grins) zum Gegenangriff.
Mit burlesqueartigen Bewegungen schlage ich meine Beine übereinander, schiebe den Träger meiner Bluse in einer fließenden Bewegung etwas tiefer, damit meine nackte Schulter besser zur Geltung kommt, rutsche näher an ihn heran, sodass mein Kopf seiner Hose gefährlich nahekommt, blicke mit klimpernden Wimpern zu ihm auf und flüstere mit einer entrüstenden Selbstverständlichkeit, die mir all meine nonexistenten schauspielerischen Fähigkeiten abverlangt: „Ja, … okay.“ Dabei hebe ich meine Hand und nähere mich langsam verbotener Bereiche.
Er schreckt etwas zurück. Es sieht so aus, als hätte ich ihm auch gerade seine Phantasie zerstört – nur mit dem Unterschied, dass er darin sicher kein Butterbrot gegessen hat – ha willkommen zurück in der Realität.
„Echt – jetzt wirklich? Dann sollten wir hier schnell verschwinden“, entgegnet er ein bisschen zu überrascht für meinen Geschmack.
Aus dieser Reaktion schließe ich, dass der Spruch entweder noch nie funktioniert hat, oder dass das hier eine Jungfernfahrt war – hm sein erstes Opfer. Also wirklich, Männer sind solch einfältige Wesen. Er kapierts einfach nicht.
„Nein … natürlich nicht wirklich “, fahre ich ihn immer noch flüsternd an. Nun habe ich genug von dieser Farce und packe meine Sachen zusammen.
„Wo wollen Sie hin?“, fragt er, als ob er sich immer noch Hoffnungen machen würde.
Okay, ich hätte es ja auf sich beruhen lassen, aber er wollte sich diesen Korb ja unbedingt noch abholen.
„Ich muss zum Zoo. Meldung machen, dass einer ihrer Primaten entlaufen ist.“ Der hat gesessen. Ihm und dem Rest der Zuschauer fallen soeben die Kinnladen runter
Das ist mein Stichwort, um von hier zu verschwinden – siehe Tipp Nr. 3 Selbstverteidigungs-Eskalationstraining. Dabei werfe ich ihm noch einen Wo-das-herkommt-gibt-es-noch-viel-mehr-Blick zu, um die Grenzen meines Reviers abzustecken.
Ich erhebe mich theatralisch und – oh nein Kreislauf – es ist ja mal wieder so klar. Und aaahh Schmerz – mein Knöchel. Nun offenbart sich die volle Wirkung der plötzlichen Lageänderung.
Ehe ich mich versehe, wird mir schwarz vor Augen, bekomme weiche Knie, verliere die Kontrolle über meinen Körper und gleite in die bittersüße Bewusstlosigkeit ab.
Die Geräusche des Raumes sind so unendlich weit weg und ich bin in einem Paralleluniversum, das gerade einer Nussschale entsprungen ist, gefangen.
Eigentlich stand in meinem Drehbuch: Verlasse als selbstbewusste Powerfrau diese Gestade , nicht kippe vor deinem Peiniger aus den Latschen.
Einmal im Leben verlässt man sich auf die Funktionsfähigkeit seines Kreislaufsystems und auf Gelenke, die sonst immer funktionieren und dann wird man so herb enttäuscht.
Langsam komme ich zu mir und blicke in ein perfektes Gesicht, dessen Mund sich bewegt, ich aber nur komische Worte verstehen kann, die keinen Sinn ergeben. Ist irgendwie lustig und ich kann mein Lächeln nicht unterdrücken.
„Ist alles in Ordnung?“ Okay, jetzt ergeben die Worte einen Sinn. Anscheinend wird mein Gehirn wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt und ich werde wieder einmal unsanft aus einem Bewusstseinsstadium gerissen.
Erst jetzt bemerke ich, dass ich in seinen Armen liege. Durch sein Jackett hindurch fühle ich feste Muskeln und der Vorspann des Urfilms beginnt bereits wieder zu laufen.
„Hey … alles in Ordnung?“, höre ich nun klar und deutlich. Seine Stimme ist erfüllt von Sorge und Beschützerinstinkt, was mich wieder weiche Knie kriegen lässt.
Kurz ertappe ich mich, in diesem Zustand ganzheitlicher Konfusion zu verweilen und einfach die Rettung durch den Prinzen zu genießen. Ich fühle mich so sicher und mit den Muskeln kann er sicher auch ganz hervorragend Mammuts jagen … .
Jetzt reiß dich zusammen! Und schon werde ich wieder Herr über meine Gliedmaßen und entreiße mich ruckartig seinen Armen.
Wie peinlich ist das denn. Ich spüre förmlich alle Augen auf mir. Kann sich nicht jetzt die Erde auftun, bitte? Okay, die Show ist vorbei. Jetzt ist es aber sowas von Zeit für Flucht und wie von der Tarantel gestochen – igitt Spinnen – verlasse ich das Café, ohne dabei meinen Blick vom Notausgang abschweifen zu lassen. Nichts wie weg hier.
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