Natürlich stolziere ich mit direkt vom Victoria’s Secret Laufsteg abgeguckten großen Schritten und dem perfekt einstudierten Hüftschwung auf mein Ziel zu, als mein Stöckel in genau dem Loch des Kanaldeckels stecken bleibt, das man, wenn man es bewusst darauf angelegt hätte, niemals auf Anhieb treffen würde.
Ab jetzt geht alles ganz schnell, denn physikalische Grundgesetze treten ein. Darf ich vorstellen – das Aktionsprinzip, durch das mein Körper beschleunigt wird, dicht gefolgt vom Reaktionsprinzip, das mich schmerzlich daran erinnert, dass die gleich hohe entgegengesetzte Kraft mit der ich auf den Boden einschlage, vom Boden auch auf meinen Körper einschlägt. Da sag ich doch – guten Tag Gravitationskräfte – seid ihr auch noch alle da und 1:0 im Kampf Rotationsellipsoiden gegen träge Masse. Gleichzeitig setzt natürlich die reflexartige Hirn-Gliedmaßen Koordination ein, die mich vor schlimmeren Blessuren aus dem resultierenden Gleichgewichtsverlust bewahren soll und sicherstellt, dass ich mich so richtig vom aller Feinsten zum Affen mache. Da sag ich doch – Dankeschön vegetatives Nervensystem.
Da knie ich nun auf allen Vieren – zurück zum Ursprung, nur mit dem einen Unterschied, dass sich unsere pelzigen Vorfahren solche Schuhe sicher nie angetan hätten. Obwohl, stammen wir nicht eigentlich vom Quastenflosser ab – das lässt mich daran erinnern, dass ich Fisch ab sofort von meiner persönlichen Nahrungskette streiche.
Und welcher Schwachmat hat das Sprichwort: „ Hochmut kommt vor dem Fall “ erfunden, das mir nun unentwegt durch den Kopf schießt.
Okay … das hat jetzt keiner gesehen – auch das rede ich mir ein und um meine Illusion nicht selbst zu zerstören, lässt mich mein Unterbewusstsein stur gen Boden blicken. Es nimmt mir somit die Möglichkeit, potenziell vorhandene Zeugen dieses Schauspiels zu erspähen, ergo wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich auch nicht – komplett unlogisch aber der ideale Selbstschutz. Dass ich damit meinen putenroten Kopf verstecke, ist ein angenehmer Nebeneffekt.
Kaum aus dieser erniedrigenden Position befreit, hab ich das Bedürfnis, diesem Isaac Newton selbst einen Apfel an die Birne zu hauen.
Nun wird erst das Ausmaß dessen sichtbar, wenn Beschleunigung über die Trägheit siegt.
Die physischen Opfer: Zwei wunderbar aufgeschlagene Knie, ein schmerzender Knöchel und ein paar halterlose Strümpfe.
Die psychischen Opfer: Einbußen von 1/ 8Selbstbewusstsein, kurzer Anonymitätsverlust gefolgt von kurzem ungewollten Aufmerksamkeitsgewinn.
Sigmund Freud würde sicher gerne dieses Phänomen psychoanalytisch interpretieren, aber ich glaube, selbst er hätte irgendwann bei dem Versuch aufgegeben, meine Gefühlswelt zu enträtseln. Er würde sich wie Sisyphos fühlen, nur dass er keinen Marmorbrocken den Berg raufrollt sondern einen Riesenmuffin. Ein Zwiespalt tut sich auf, denn isst er vom Muffin, schafft er es aufgrund überzähliger Kilos nicht mehr auf den Berg, andererseits ist der Muffin einfach viel zu verlockend – willkommen in meiner Welt sag ich nur.
Es sieht aber so aus, als ob keine bleibenden Schäden entstanden sind, die nicht durch ein Pflaster und eine heiße Schokolade geheilt werden könnten.
Jetzt aber schnell ins Café, bevor sich noch die Erde vor mir auftut oder mich ein Meteorit trifft – ja ist alles schon vorgekommen – vielleicht nicht in der Reihenfolge … ich fasle schon wieder.
Beim Passieren der Eingangstüre frage ich mich kurz, ob es die heiße Schokolade hier auch mit Sahne gibt, verwerfe den Gedanken jedoch gleich wieder, den Riesenmuffin vor meinem geistigen Auge.
Ich löse mit meinem Eintreffen eine synchrone Rotationsbewegung aller Halswirbel im Raum aus. Gefolgt von einer paarweisen Winkeländerung und Linsenfokussierung direkt auf die Anomalie an meinem Körper: Meine aufgeschlagenen Knie.
In dem Moment bereue ich die morgendliche Entscheidung für einen Rock, doch ich wollte unbedingt das blaue Wasserfall-Top mit den breiten Spitzenträgern anziehen und im Rahmen meiner eingeschränkten Garderobe, war das die passende Wahl.
Viel schlimmer sind jedoch die Expressionen, die sich in Form von Mimik und Gestik der hier Anwesenden ableiten lassen. Und nun lässt die nonverbale Linguistik grüßen, auf deren Fähigkeit zur Entschlüsselung ich in diesem Moment gerne verzichten würde.
Ab jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten – entweder ich löse damit den nächsten Trend aus – Planking ist sicher auch dadurch entstanden, dass sich jemand so richtig aufs Maul gelegt hat – oder das zugegebenermaßen realistischere Szenario: Morgen ist mein verdatterter Anblick auf YouTube zur kollektiven Belustigung downloadbar. Da sag ich doch danke Tim Berners-Lee für ein Leben in Angst vor den sozialen Netzwerken.
Da steh ich natürlich voll drüber – zwar nur kurz aber hey, der Wille zählt fürs Werk. Dann ergebe ich mich dem gesellschaftlichen Druck und hechte gen Toilette, um größeren Reputationsschaden zu vermeiden. Der Spiegel enttarnt nun gnadenlos, was bisher verborgen blieb – man nehme schwarze Augenränder an bleicher Haut mit einer Prise Bad-Hair-Day. Das ist der Stoff, aus dem Horrorfilme sind – ich hör schon die „ Der weiße Hai “ Filmmusik im Hintergrund – ta dada …
Ich bin sicher, Frankensteins-Monster hatte nach seiner Erweckung mehr Farbe im Gesicht als ich. Mir fällt wieder mein Arzt ein, den ich immer Dr. Schiwago genannt habe, weil ich mir seinen Namen nicht merken konnte, der einst meinte – ich zitiere wörtlich: „ In meiner langjährigen Profession als praktizierender Arzt ist mir noch nie ein Organismus begegnet, der mit solch niedrigem Blutdruck bei gleichzeitig so hohem Puls nicht vor lauter paralysierter Hyperaktivität implodiert ist “ – wenn sie wüssten Herr Doktor.
„ Vielleicht stehen Sie kurz vor der Entdeckung einer neuen Spezies “ – fand er jetzt nicht so prickelnd als Kommentar seiner Diagnose. Naja, was soll ich sagen, ich bin wie ein Perpetuum mobile – einmal in Gang gesetzt, ewig in Bewegung.
Jetzt mach ich es schon wieder – zuerst die Straßenbahn, jetzt die Toilette – auf jeden Fall sollten sie mich unter die Gattung Tagträumer einordnen, wenn sie meine Spezies offiziell erfassen.
Hastig versuche ich noch das letzte bisschen Frisur zu retten – so, besser krieg ichs nicht hin. Heiße Schokolade ich komme.
Im Café sind wieder alle damit beschäftigt, sich gegenseitig zu ignorieren. Gekonnt siegt der Kollektivismus über den Individualismus und ich füge mich ebenfalls dieser Erscheinung des 21. Jahrhunderts und lese in meinem mitgebrachten Buch.
Der Zuckerschock regt meine Insulinproduktion an und Endorphine werden durch meinen Körper gejagt – die Weltordnung ist wiederhergestellt.
Die Tatsache, dass die Sitzbank ziemlich bequem ist, ist nur ein schwacher Trost dafür, dass alle Schokotorten bereits von anderen anonymen Schoko-Süchtigen, die mir zuvorgekommen sind, vertilgt wurden. Wobei ich der Versuchung hätte widerstehen können – ganz sicher. Ich bemerke gerade wie einfach es ist, sich selbst zu belügen.
Die Tür des Cafés wird aufgerissen und natürlich verfalle auch ich in die kollektive Halswirbelbewegung. Darf ich vorstellen: Neugierde, lateinisch: Novarum rerum cupidus, Wortstamm kommt von „auf Neues begierig“ – ein weiterer Wesenszug, der sich in eine Reihe von weiblichen Stereotypen eingliedert. Ich bin natürlich nicht neugierig – zumindest nicht pathologisch.
Plötzlich vernebelt sich meine Wahrnehmung und die Realität beginnt, wie in Zeitlupe abzulaufen. Eine Gruppe von potenziellen Ernährern betritt das Café. Ich spezifiziere genauer: Es handelt sich um eine Gruppe von Anzugträgern.
Der gemeine Anzugträger tritt in der freien Wildbahn üblicherweise im Rudel auf und weiß in der Regel genau über die Wirkung seines Äußeren auf das weibliche Publikum Bescheid. Okay, ich gestehe alles – Männer im Anzug sind sexy. Was, zu meiner Verteidigung, bei der heutigen Fülle an ungepflegten, arbeitsverweigernden, die Hose bis zum Po runtergezogenen Vertretern der Spezies Mann ein letzter Lichtblick ist, an den wir Frauen uns klammern.
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