„ Hilfe !“, brüllte Achim. Seine tiefe, rauchige Stimme war einem fast mädchenhaften Krächzen gewichen.
Der Finger in Roys Hand krümmte sich wie ein Wurm. Das zielgenaue Treffen der Eins wäre nicht mehr als Zufall gewesen, und so überrascht es nicht, dass Achims speckiger Finger sein Ziel knapp verfehlte. Er traf die Zahl darunter; die Vier.
Der vormals so zornige Nachbar schrie ängstlich auf, als die Mikrowelle ein lebhaftes BING ertönen ließ. Als er etwas spürte (etwas fühlte, viel mehr), erstickte sein geplanter zweiter Schrei. Stattdessen – so unpassend die Situation auch sein mochte – stieß Achim ein lustvolles Stöhnen aus. Und in Anbetracht der nachfolgenden Verwandlung konnte man es ihm auch nicht verdenken.
Zunächst einmal wuchs sein schütteres Haar. Erst langsam, dann schier hektisch. Aus den paar Haarfusseln wurde eine prachtvolle braune Mähne, die sich gegen Ende bis zu den Schultern erstreckte. Die teilweise tiefen Falten um die Augen herum glätteten sich und verschwanden dann völlig. Der Bierbrauch schien wie ein kaputter Luftballon an Inhalt zu verlieren. Die ohnehin angestaubten Muskeln an den Armen pumpten sich auf.
Achim Hansemann wurde jünger.
„Mein Gott!“, rief er und betastete seine wilde Löwenpracht am Kopf. „Was haben Sie mit mir gemacht? Ich fühle mich so komisch!“
„Verstehe“, sagte Roy trocken, griff zu seinem Stift und notierte etwas auf seinem Zettel. Trotz seiner enthaupteten Freundin und einem alten Mann, der soeben eine drastische Verjüngungskur hinter sich hatte, war Roy die Ruhe in Person. „Fühlen Sie denn sonst noch irgendwas?“
Achim schien zu überlegen, dann befühlte er mit wachsender Ehrfurcht seinen Schritt. Seine Augen weiteten sich, und als er die Boxershorts mit einem Finger anhob, um das Innere zu inspizieren, fielen sie fast aus ihren Höhlen.
„Mein Schwanz!“, rief er triumphierend. „Mein Schwanz steht wieder!“
Roy nickte. „Okay. Würden Sie dann jetzt bitte die Eins drücken?“
„Wie? Was?“
„Die Eins, bitte“
„Oh, ja klar!“
Noch völlig im Nebel der Überraschung gefangen, stand Achim schwankend auf, begutachtete kurz seine schlankeren Beine und grinste dusselig. Er schaute zur Mikrowelle und konnte sich eine Frage nicht verkneifen. „War das wirklich das Ding? Das ist doch völlig unglaublich!“
Roy lächelte ausdruckslos weiter. „Tja. Mal sehen was bei der Eins passiert, was?“
Achim lachte schnaufend. „Vielleicht wird mein Ding ja dann länger.“ Er stieß Roy mit dem Ellenbogen an. „Noch länger, verstehste?“
Gerade, als Achim die Eins gedrückt hatte und das markante BING (diesmal aber leiser) ertönte, ging ihm offenbar ein Licht auf. „Moment mal, haben Sie nicht gesagt dass bei ungeraden...„ Weiter kam er nicht. Sein rechter Zeigefinger machte ein bröselndes Geräusch, dann fiel er einfach ab.
Aller guten Dinge sind Drei, und der dritte Unglücksrabe in dieser Geschichte war ein junger Paketlieferant. Eigentlich hätte er ein Paket für einen Herrn Hansemann abliefern sollen (er wusste dank des Bestellscheins, dass es sich um ein paar Pornos handelte), doch beim Anblick der offenen Tür daneben schaltete sich sein neugieriger Instinkt ein. Der Paketlieferant, den alle nur Chip nannten, ging mit einer Kiste Pornos im Arm in die Wohnung.
Zunächst einmal fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf, bis er ein leises Wimmern hörte. Es kam aus Richtung Küche, und trotz einer warnenden Stimme im Ohr folgte Chip seiner Spannung. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er eben noch nicht den kindlichen Abenteurer in seinem Herzen überwinden können; aber als er in der Küche ankam, verflog all sein Mut.
Zuerst sah er die kopflose Frau am Boden liegen. Dann sah er all das Blut an den Wänden und Schränken. Er sah auch loses, braunes Haar an der Wand kleben, redete sich aber ein, nichts gesehen zu haben. Sein nächster Blick fiel nach links, wo ein junger Mann mit wildem Haar hockte. Von ihm stammte das Wimmern, und trotz seines eher bemitleidenswerten Aussehens konnte sich Chip einen ängstlichen Schrei nicht verkneifen. Natürlich dachte Chip sofort, hier den Mörder vor sich zu haben, und ehe er sich versah, hatte er schon sein Paket als Angriffswaffe nach oben gehoben.
„Keine Bewegung!“, rief Chip, auch wenn es eher ein lautes Flüstern war.
Der Mann reagierte gar nicht. Stattdessen zog er etwas Rotz die Nase hoch, worauf aus dem Wimmern ein waschechtes Heulen wurde. Chip fiel auf, dass der Kerl krampfhaft seine rechte Hand hielt, und er konnte sich auch denken, warum; da waren nur drei Finger und der Daumen.
„Okay“, sagte Chip. „Ich rufe jetzt die Polizei!“
Ein lautes Schniefen. „Er hat gesagt, ich soll die Eins drücken!“
„Alles klar, mann.“ Bloß weg hier !
Mit schnellem Schritt galoppierte Chip durch den Flur auf der Suche nach einem Telefon. Im Wohnzimmer fand er glücklicherweise eines. Er hatte gerade den Hörer abgenommen, als er sah, dass ihn jemand von der Couch aus beobachtete. Chip ließ den Hörer fallen und griff wieder zu seinem Paket. Er war offenbar immer noch der Meinung, dass der Karton eine gute Waffe sei.
„Wer zur Hölle sind Sie denn jetzt?“, rief er mit zittriger Stimme.
„Ich? Ich bin nur ein einfacher Mann von Welt.“
Und ich bin Jesus , dachte Chip. „Was haben Sie da in der Hand?“
Roy Kokett sah auf die Mikrowelle. „Das ist bloß ein alter Kasten.“
„Legen Sie ihn trotzdem auf den Boden, okay? Vielleicht ist das ja eine Bombe!“
„Eine Bombe!“ Roy kicherte. „Mein Junge, eine Bombe ist hiergegen ein trockener Furz.“
„Aber...“, doch Chip war mit seinen Nerven fast am Ende. Der Tag hatte normal angefangen – eine Scheibe Toast, einen Kaffee. Dann waren eine kopflose Frau, Unmengen von Blut und ein winselnder Typ ohne rechten Zeigefinger gekommen. Und das Finale bestritt ein Kerl mit einem Blechkasten auf dem Schoß.
„Weißt du, da fällt mir dieser dämliche Spruch ein“, sagte Roy. Er starrte träumend ins Nichts. „Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel. Man weiß nie, was man bekommt.“
Mit diesen Worten drückte er die Rauten-Taste.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.