Es gibt biologische und biographische Determinanten, die unsere Welt bestimmen im Sinne von beeinflussen. Aber auch wenn wir sie individuell ausgestalten, unterliegen wir den von Jaspers genannten Strukturen, auf die wir Antworten finden müssen. Sie werden Grenzsituationen genannt, weil der Mensch an die Grenzen seiner Existenz, seines Selbstbewusstseins geführt wird. Wer sich von seinem Studium herausfordern und verändern lässt, erlebt eine Grenzsituation in diesem Sinne der Existenzphilosophie. Sie sind tatsächlich Grenzen unserer Welt, aber es sind nichtsprachliche Facetten einer Welt, die immer auch Enge zu schaffen in der Lage ist. Das Medium Sprache kann dann mit seiner Freiheit dazu dienen, sie wieder aufzulösen.
3 Orientierung im Uni-Leben
3.1 Praktisch und rational
Mit der gymnasialen Oberstufe und dann weiter im universitären Ausbildungswesen wird ein Lernverhalten andressiert, dem die Strategien dienen, sich Noten optimal auszurechnen. Auch wenn es um "kostbare Nutzlosigkeiten" geht, wird mit erhöhtem Druck die Kosten-Nutzen-Rechnung von jedem Einzelnen angewandt, dem es um diesen rationalen Effekt geht und gehen muss. Die Crux ist, dass inzwischen mancher schon keine andere Geisteshaltung als die kalkulatorische kennt. Das war das große Thema der Frankfurter Schule, bezogen auf die gesamte Gesellschaft: In den modernen Industriegesellschaften wird nur noch gerechnet, wir sind alle homines oeconomici, mit dem Taschenrechner tatsächlich immer griffbereit in der Tasche. Zwischen Alumnus academicus et oeconomicus (akademischer und ökonomischer Schüler) und Rest-Lurchi bravoroso spielt die Musik, die eine Schicksalsmelodie sein könnte.
Dieses Schema der Ratio, das primär dazu taugt, praktische Situationen des Lebens in den Griff zu bekommen, wird leicht im Transfer auf alles bezogen, was sich nachdrücklich im Horizont notwendiger Gestaltung meldet und einen Aufwand kostet. Es stammt ursprünglich aus der Natur, in der Verschwendung auf der einen Ebene möglich ist, auf der anderen aber Sparsamkeit herrscht. Der Elch trägt Schaufeln mit sich herum, die nicht rational sondern luxurierend sind. Die Anzahl und Verteilung der Elche pro Quadratkilometer ist hingegen rational, wenn man bereit ist, diesen Begriff zu akzeptieren, der das Schwanken von Ist- und Sollwerten in der Natur bezeichnet. Selbst Kulturen können, das folgt daraus, Inhalte für immer verlieren, da niemand mehr bereit ist, einen Preis für sie zu bezahlen. Genannt wird mit oder ohne Bedauern, dass die Gläubigkeit des Mittelalters unwiederbringlich ist. Wenn den Menschen nur noch übrig bleibt, ihre Zeit und ihre Seele zu verkaufen, das wäre das andere Extrem, gibt es keinen Transfer mehr hin zur Nutzlosigkeit als Würze der Kultur. In der Oberstufe optimiert der Schüler das taktische Lernverhalten, geizt mit der Zeit, akzentuiert mit Berechnung die Fächer. Da geht es los und nimmt kein Ende. Das entspricht von außen genau dem, was mit "borniert" gemeint wird, das Handeln und Denken mit Begrenzung, weil man glaubt, es bleibe einem nichts anderes übrig. Es ist eine Form muffigen Glücks, denn man merkt nicht einmal, dass einem etwas fehlt. Diese Tendenz zum Glück der Kulturlosen stimmt auch für jede Gruppe, in der Moral fehlt. Wenn sie es merken, dass ihnen etwas fehlt, bleibt ihnen der Zynismus. Es waren die Inder selbst, denen klar wurde, sie seien solange ein glückliches Volk gewesen, bis die "Ami-Schlitten durch ihre armseligen Dörfer rauschten". Ihr Glück erschien ihnen schlagartig auf diesem Vergleichsweg abhanden gekommen zu sein, zwanghaft im Kopf, kalkulierend. Was uns klein macht, sind nicht die Bedürfnisse, sondern unsere Ungeschicklichkeit, mit ihnen umzugehen. Wer die klassischen drei Bücher besitzt, Telefonbuch, Adressbuch, Scheckbuch, ist glücklich und wird erst traurig, wenn man ihm sagt, es gibt da noch ein viertes oder fünftes, stellvertretend für viele, die, die er eben nicht hat aber haben sollte. (Zum Beispiel, wenn er nur schon den Titel versteht Vom Trost der Philosophie von Anicius Boethius, römischer Philosoph, gest. 524, im Gefängnis geschrieben). Bildung macht den glücklich, der glaubt sie zu haben und den unglücklich, der das nicht glaubt.
Rationalität ist ursprünglich ein egoistisches Verfahren der persönlichen Durchsetzung. Jeder kann sich Methoden ausdenken, die ihm optimale Ergebnisse bringen. Die Grenzen meiner Welt, in der gehandelt wird, wären dann meine Methoden und ihre Effizienz. Da Rationalität transferierbar ist, ist sie die mögliche Basis für menschliches Handeln generell, jedenfalls hoffen wir das. Sie und nicht die Emotionen, nicht die Phantasie, hat der Philosoph Jürgen Habermas als unsere Hoffnung gesehen, dass sich der Mensch verständigt, ohne sich den Schädel einschlagen zu müssen.
Das ist auch wiederum eine ganze, aber reduzierte systematische Welt. Schließlich kann man rational bestimmen, was die Ehe und die Kinder kosten und was man von ihnen hat. Der Komponist Georg Kreisler kommt auf 7 Euro ohne Mehrwertsteuer für das Stoffliche des Menschen, ohne Herstellungskosten, wenn man den Menschen in seine elementaren Teile zerlegt und sie nach Marktpreisen kalkuliert. Natur und Kultur sind aber nicht auf die Flaschen des Szientismus zu ziehen, sind nicht durchgehend determiniert, das ist schon hier erkennbar. Wer nach Bildung strebt, muss schon Bildung haben, sonst weiß er nicht, was er sucht. Das Baby, das zu krabbeln anfängt, hat auch schon höhere Pläne. Vielleicht ist ja in der Unterstufe, beim Erlernen des Dreisatzes, schon der Wunsch entstanden, einmal das schwarze Loch zu verstehen und ein Gedicht auf die Stille des Mondes ebenso zu genießen. Ein Wunsch, der schließlich durchs ganze Leben trägt. Beginnen tut er enzymatisch, und das heißt, man muss etwas Glück gehabt haben, dass bestimmte Prozesse in Gang kommen, auf das Glück muss man vorbereitet sein. Immer ein persönliches Erlebnis dürfte es in der akademischen Welt sein, zu erfahren, wo das kalkulatorische, wissenschaftliche Denken aufhört und das ganz andere beginnt, das man auch das existentielle nennen kann.
3.1.1 Rationalität ist ein Instrument
Wo Rationalität aufhört, die kalkulierende, beginnen die Chancen der Bildung. Als Scharnier verbindet sie aber durchaus das, was notwendig ist mit dem, was auch durchaus spielerisch vorgenommen werden kann: Es ist die Bewertung, zu der jeder fähig sein muss.
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Band 1, S. 28) "Rationalität" als einen Begriff gebraucht, der für das kommunikative Handeln positiv und unerlässlich ist. Die in zwangloser Situation argumentierende Rede kann Übereinstimmung herstellen. Das wäre ein Verlauf, weg von Emotion und Parteilichkeit, zu einer gezügelten Interessenlage, zur Rationalität. Für einen Psychologen aus Israel spitzt sich die Frage zu. Statt ewiger Konfrontation, müssten Israelis und Palästinenser sich zusammensetzen und eingestehen, dass sie sich gegenseitig Schmerzen zugefügt hätten. Das sei aber utopisch. Der utopische Charakter von Rationalität als Methode politischer Konfliktbewältigung spricht nicht gegen sie, er macht sie unmöglich. Es ist aber wichtig, sich bei den vielen Arten, Rationalität zu verpassen, sich auf die womöglich eine effiziente zu besinnen. Denken und Handeln mögen besondere Befriedigung bringen, wenn sie in egoistischer Form nicht rational sind. Das gilt aber nicht auf dem Terrain der Wissenschaft, wobei wir nicht immer wissen, welchen optimalen Wert wir erhoffen können. Auch auf anderen Gebieten begnügen wir uns mit einer Annäherung an positive Höchstwerte wie die Wahrheit oder die hochprozentige Energieausnutzung eines Quasi-Perpetuum mobile . Welche Rationalität da angebracht ist, leitet sich aus ihnen zwangsläufig ab.
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