dass ihr Geschlecht sich erfreu' unsres Schutzes und sicher befände,
die lagen freilich da zu Gewinst und Beute für andre,
alle verstrickt in die eignen Fesseln, ihnen Verhängnis,
bis diese Art die Natur zum Untergang schließlich geführt hat.
Auch die Instinkte sind, als Organfunktionen, ein Ergebnis der naturgeschichtlichen Entwicklung. Auch die Liebe . Der Sex ist in der Evolution deswegen entstanden, um die Urtiere überhaupt erst einmal dazu zu bewegen, sich fortzupflanzen und ihre Art zu erhalten, wofür sie gewissermaßen durch die Sexuallust geködert und belohnt wurden. Es ist dieselbe Lustprämie , von der Reitler spricht.
Es gibt in der Evolution auch die geschlechtliche Zuchtwahl: die sexuelle Selektion – nämlich da, wo die Weibchen sexuell besonders attraktive Männchen zur Paarung wählen, wie sie es instinkmäßig tun. Und sogar deliberative Selektion: Wählt ein Menschenweibchen sich einen zwar nicht besonders sexy, dafür aber besonders reichen Mann zur Paarung, dann ist es, könnte man sagen, zwar künstliche, aber nicht eigentlich sexuelle Zuchtwahl. Das Gleiche gilt, wenn sie einen auffällig intelligenten, nicht aber sexuell attraktiven Mann wählt. Letzteres kommt Harrys Meinung nach allerdings seltener vor.
Scharfsinnig vermeidet Lukrez das irreführende teleologische Denken: zu glauben, die Natur verfolge mit der Evolution irgendeinen Zweck oder ein vorgegebenes Ziel, griechisch telos . Doch hat die Evolution keinerlei solches Ziel: Denn nicht, damit die Lebewesen überleben, entstehen ihre arterhaltenden Eigenschaften – das hieße die Ursache mit der Wirkung verwechseln –; sondern nur, falls spontan und zufällig solche Eigenschaften entstanden sind, können sie auch überleben. Nicht deshalb, weil wir Augen zum Sehen brauchen, sind sie entstanden; sondern weil das Sehen und Gesehenwerden ein Überlebensvorteil ist, wurden lichtempfindliche Organe selektiv positiv bewertet. Es lag ein Selektionsdruck darauf. Das Gleiche gilt für die Sinneswahrnehmung. Und nicht, weil die vorteilhafte Fortbewegung ihre Entstehung kausal hätte anleiern können, entstanden die Füße; sondern weil die Beweglichkeit von Vorteil fürs Überleben war, wurden Fortbewegungsorgane selektiv bevorteilt. Nicht, weil wir Arme und Hände brauchten, wuchsen sie uns, sondern weil sie dem Leben dienten und daher ein Selektionsdruck auf ihnen lag.
Und nicht, damit damit die Tiere sich eifriger fortpflanzten, entstand die Sexuallust; sondern je mehr Lust sie dabei hatten, desto eifriger pflanzten sie sich fort. Das gilt insbesondere auch für uns Menschen. Der unbestechliche Naturalist Lukrez verwirft gezielt jede andere Erklärung:
Dass in diesen Dingen sich birgt jener Fehler, mit Nachdruck
müssen wir's sagen …
müssen dem Irrtum entgehn und vorher sorglich ihn meiden,
dass du nicht sein lässt geschaffen die hellen Lichter der Augen,
dass wir ausschauen können, und dass wir zu strecken vermögen
schlanke Schritte, zu diesem Zweck sich vermögen die Spitzen,
fest auf dem Fuß gegründet, von Waden und Schenkeln zu beugen,
und du weiter meinst, die Arme sind drum an die starken
Muskeln gefügt und die Hand als Diener gegeben zu beiden
Seiten, dass wir zu tuen imstand, was nötig zum Leben.
Alles was sonst noch von dieser Art sie suchen zu deuten,
ist verdreht, das Danach vor dem Vor, in verkehrter Erklärung,
da ja nichts darum geboren im Körper ist, dass verwenden
wir es könnten, vielmehr, was geboren, Verwendung ermöglicht .
Und nicht vor der Geburt der Lichter der Augen war Sehen,
nicht, mit Worten zu reden, bevor die Zunge geschaffen,
sondern der Ursprung der Zunge geht weit vorher dem Gespräche,
und viel früher vielmehr sind geschaffen worden die Ohren,
als man hörte den Ton, kurz, alle die Glieder sind vorher,
mein' ich, gewesen, bevor ihr Gebrauch sich konnte entwickeln;
also konnten sie nicht des Gebrauchens wegen erwachsen ...
Jenes ist aber geschieden davon, was vorher von selber
wachsend, hernach hat enthüllt die Kenntnis des eigenen Nutzens.
Und von solcher Art sehen Sinne und Glieder zumal wir;
drum ist es noch und noch davon fern, dass glauben du könntest,
wegen der Leistung des Nutzens hätten entstehen sie können.
Der wissenschaftliche Stoff ist einigermaßen trocken, so dass Harry nicht umhin kann, ihn etwas ironisch-anzüglich aufzulockern. Zur Teleologie , dichtet er zur Ökonomie der Hygiene- und Geschlechtsfunktionen. Er macht Béa zu Teutolinde und belässt es spaßeshalber beim alten Schöpfer:
… Als zur blonden Teutolinde
Ich in solcher Weise sprach,
Seufzte sie und sagte: „Ach!
Grübeln über Gottes Gründe,
Kritisieren unsern Schöpfer,
Ach! das ist, als ob der Topf
Klüger sein wollt als der Töpfer!
Doch der Mensch fragt stets: Warum?
Wenn er sieht, dass etwas dumm.
Freund, ich hab dir zugehört,
Und du hast mir gut erklärt,
Wie zum weisesten Behuf
Gott dem Menschen zwiefach schuf
Augen, Ohren, Arm' und Bein',
Während er ihm gab nur ein
Exemplar von Nas und Mund –
Doch nun sage mir den Grund:
Gott, der Schöpfer der Natur,
Warum schuf er einfach nur
Das skabröse Requisit,
Das der Mann gebraucht, damit
Er fortpflanze seine Rasse
Und zugleich sein Wasser lasse?
Teurer Freund, ein Duplikat
Wäre wahrlich hier vonnöten,
Um Funktionen zu vertreten,
Die so wichtig für den Staat
Wie fürs Individuum,
Kurz, fürs ganze Publikum.
Eine Jungfrau von Gemüt
Muss sich schämen, wenn sie sieht,
Wie ihr höchstes Ideal
Wird entweiht so trivial!
Wie der Hochaltar der Minne
Wird zur ganz gemeinen Rinne!
Psyche schaudert, denn der kleine
Gott Amour der Finsternis,
Er verwandelt sich beim Scheine
Ihrer Lamp – in Mankepiss.“
Also Teutolinde sprach,
Und ich sagte ihr: „Gemach!
Unklug, wie die Weiber sind,
Du verstehst nicht, liebes Kind,
Zwei Funktionen, die so greulich
Und so schimpflich und abscheulich
Miteinander kontrastieren
Und die Menschheit sehr blamieren.
Gottes Nützlichkeitssystem,
Sein Ökonomieproblem
Ist, dass wechselnd die Maschinen
Jeglichem Bedürfnis dienen,
Den profanen wie den heil'gen,
Den pikanten wie langweil'gen –
Alles wird simplifiziert;
Klug ist alles kombiniert:
Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche
Fiedelt auf derselben Bratsche.
„Die Natur“, sagte mir einst Hegel, „ist sehr wunderlich: dieselben Werkzeuge, die sie zu den erhabensten Zwecken gebraucht, benutzt sie auch zu den niedrigsten Verrichtungen, z. B. jenes Glied, welchem die höchste Mission, die Fortpflanzung der Menschheit, anvertraut ist, dient auch zum – – –“
Soviel zu Lukrez und seiner Lehre von der organischen Entwicklung vom Molekül zum Menschen. Zwei Jahrtausende später ist es Heines Zeitgenosse, der französische Zoologe Jean-Baptiste Lamarck, wenn nicht Geoffroy Saint-Hilaire, welcher den Affen für den Ahnherrn des Menschengeschlechts erklärt; die Menschen sind nach seiner Meinung nur ausgebildete, ja überbildete Affen . Um 1800 begründet Lamarck in seiner Philosophie zoologique als erster eine wie immer noch fehlerhafte, aber systematische Theorie der Evolution: der Arttransformation, des Transformationismus, der Veränderlichkeit der Arten.
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