Lamarck zufolge entstehen die einfachsten Organismen durch Urzeugung. Sie entwickeln sich zu immer komplexeren Formen, wobei die Entwicklung eine ganz bestimmte Richtung hat: vom Einfachen zum Komplexen. Pflanzen und Tiere haben sich demnach unabhängig voneinander entwickelt. Diese Transformationslehre behauptet im Gegensatz zur späteren verbesserten Theorie noch keine gemeinsame Abstammung aller Arten. Die einzelnen Tierklassen seien unabhängig voneinander entstanden. Die Klassen haben zwar gleichartige , aber keine gemeinsamen Vorfahren: die durch die Urzeugung entstandenen Formen. Ihre Evolution verlaufe parallel und unabhängig voneinander. Zur Höherentwicklung komme es aufgrund eines im Organismus angelegten determinierten Prozesses. Evolution à la Lamarck ist also gerichtet, wenn auch nicht auf ein vorherbestimmtes Ziel hin.
Seiner Philosophie zoologique 1809 (– Harry ist zwölf) nach entsteht der Mensch aus einer Art Affen: „Wenn in der Tat irgendeine Affenrasse, hauptsächlich die vollkommenste derselben, durch die Verhältnisse oder durch irgendeine andere Ursache gezwungen wurde, die Gewohnheit, auf den Bäumen zu klettern und die Zweige mit den Füßen sowohl als mit den Händen zu erfassen, um sich daran aufzuhängen, aufzugeben, und wenn die Individuen dieser Rasse während einer langen Reihe von Generationen gezwungen waren, ihre Füße nur zum Gehen zu gebrauchen, und aufhörten, von den Füßen denselben Gebrauch wie von den Händen zu machen, so ist es … nicht zweifelhaft, dass die Vierhänder schließlich zu Zweihändern umgebildet wurden und dass die Daumen ihrer Füße, da diese Füße nur noch zum Gehen dienten, die Entgegenstellbarkeit zu den Fingern verloren. Wenn überdies die Individuen, von denen ich spreche, bewegt durch das Bedürfnis, zu herrschen und zugleich weit und breit um sich zu sehen, sich anstrengten, aufrecht zu stehen und an dieser Gewohnheit von Generation zu Generation beständig festhielten, so ist es ferner nicht zweifelhaft, dass ihre Füße unmerklich eine für die aufrechte Haltung geeignete Bildung erlangten, dass ihre Beine Waden bekamen und dass diese Tiere dann nur mühsam auf den Händen und Füßen zugleich gehen konnten.“
Später wurde das nun noch dahingehend korrigiert: dass nicht der Mensch vom Affen abstammt, sondern vielmehr, dass Affe und Mensch einen gemeinsamen tierischen Vorfahren haben!
Die Vielfalt der Arten erklärt Lamarck durch einen eigenen Mechanismus: Veränderte Umweltbedingungen veranlassen die Tiere zu veränderten ,Gewohnheiten' und zu einem anderen Gebrauch von Organen. Der veränderte Gebrauch führe zu Abänderungen des Organs, welche an die Nachkommen vererbt werden. Dies ist im 18ten und auch 19ten Jahrhundert noch ein populärer Irrtum. Allein dieser Teil von Lamarcks Evolutionstheorie: die Vererbung erworbener Eigenschaften, gilt später als Lamarckismus . Korrigiert wurde er in dem Sinn: dass andere Eigenschaften nicht durch individuelle Gewohnheit, sondern allein durch spontane Veränderungen im Erbgut der Arten selbst plus Selektion entstehen. Mit dem Fehler von der Vererbung erworbener Eigenschaften fällt Lamarck noch hinter Lukrez zurück, der die Höherentwicklung bereits durch bloße Selektion erklärte.
Etwas später stellt Darwin die Theorie anhand einer überwältigenden Fülle biologischer Fakten auf eine solide naturwissenschaftliche Basis. Er gilt sogar als der Entdecker der Selektion als der eigentlichen Erklärung der Evolution: des reinen Darwinismus , was angesichts der Lukrezischen Quellen aber nicht unbedingt überzeugend ist.
Heute hat die Forschung die Evolutionstheorie myriadenfach bestätigt und auf alle Bereiche der Welt ausgedehnt, so dass sie angeblich sogar vom Vatikan anerkannt ist. In Wahrheit kann der Vatikan so wenig wie irgendeine Religion, die ein Weiterleben nach dem Tod mit unsterblicher Seele behauptet, die Evolutionstheorie gar nicht anerkennen, die ja auf der Identität von Gehirn und Geist beruht – und damit mit dem Tod des Gehirns auch vom Tod der Seele ausgeht.
Was halten Sie von der Unsterblichkeit der Seele? Wahrhaftig, es ist eine große Erfindung, eine weit größere als das Pulver . Jedoch:
… Wir scheiden heut
Auf immerdar. Kein Wiedersehn
Gibt es für uns in Himmelshöhn.
An eine Unsterblichkeit – berichtet Eduard Wedekind – glaubt er nicht, und tut groß damit, indem er sagt, alle großen Männer hätten an keine Unsterblichkeit geglaubt, Caesar nicht, Shakespeare nicht, Goethe nicht: Jeder Augenblick ist mir ja eine Unendlichkeit; ich messe nicht die Zeit mit der Brabanter oder mit der kleinen Hamburger Elle, und ich brauche mir von keinem Priester ein zweites Leben versprechen zu lassen, da ich schon in diesem Leben genug erleben kann, wenn ich rückwärts lebe, im Leben der Vorfahren, und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der Vergangenheit .
Nicht eine übernatürliche göttliche Schöpfung ist das Leben, sondern naturgesetzliche Entstehung und Entwicklung. Evolutionäres Werden ist die Selbstorganisation des Organischen: spontanes Wachstum, Variation, Selektion. Der Mensch macht keine Ausnahme. Der Mensch ist aber, wie seine Fähigkeiten zeigen, der Höhepunkt dieser Entwicklung. So bestätigt die Wissenschaft gleichzeitig das biblische Wort vom Menschen als der ,Krone der Schöpfung'; doch ist ,Schöpfung' dabei etwas anderes, als was die Genesis voraussetzt. Der jüdisch-christliche Mythos wird durch ein naturalistisches Menschenbild ersetzt.
Dabei fragt er sich: Was eigentlich ist in der Evolution des Menschen das wesentliche selektive Kriterium? Der Mensch ist langsamer als der Hirsch und schwächer als der Löwe. Was also macht ihn trotzdem zur Krone der Entwicklung?
Da braucht er nicht lange zu fragen, die Antwort liegt auf der Hand: unsere menschliche Intelligenz. Unser menschliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein, unser Intellekt, unser Verstand und unsere Vernunft sind das Merkmal, das die menschliche Evolution selektiv lenkt und uns zur Krone der Schöpfung macht!
Woher aber stammen unser menschlicher Geist und unsere Seele?
Auch daran ließ der Naturalismus keinen Zweifel: Unser menschlicher Geist und unsere Seele sind eine Funktion unseres menschlichen Gehirns. Unser Gehirn ist ein biologisches Organ. Also ist es, wie alle biologischen Organe, durch die natürliche Evolution entstanden. Demzufolge sind auch die Wirkungen dieses Organs: unser Geist und unsere Seele, ein Produkt der biologischen Evolution. Die Evolution ist der Schöpfer der Welt und des Verstandes. Aller Geist ist eine Funktion des Gehirns; und es gibt in der uns bekannten Welt keinen Geist außer dem menschlichen.
Es gibt überhaupt keinen Geist und keine Intelligenz in der Welt ohne einen materiellen Träger. Und der materielle Träger des menschlichen Geistes ist das Gehirn.
So bekommt die Lehre von der biologischen Evolution – organische Selbstorganisation plus Selektion – ihre volle Tragkraft erst dann, sobald man sie mit der Genese des menschlichen Geistes, und des Geistes in der Welt überhaupt, verknüpft. Dann kommt es zur Identität von Geist und Gehirn: Geist und Seele sind biologisch-organische Funktionen des menschlichen Gehirns, nichts sonst. Geistig-seelische Zustände sind Zustände von Neuronen, Neuronenkomplexen und des Zentralnervensystems .
Auch dieser so genannte psycho-physische Identismus findet sich schon im dritten Buch des Lukrez:
Und da der Geist ein Teil ist des Menschen, der an bestimmtem
Flecke verhaftet bleibt, wie die Ohren und Augen es sind und
jeglicher andere Sinn, der das Steuer des Lebens mit führet,
und wie die Hand und genauso das Auge für sich und die Nase
abgeschieden von uns nicht empfinden, noch können auch sein nur,
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