Die meisten Universitätsphilosophen fürchten, damals wie heute, den Materialismus wie der Teufel das Weihwasser, dabei ist er so alt wie das menschliche Denken. Ein anderes Wort dafür ist Naturalismus – der Standpunkt, dass alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht; und ,natürlich' bedeutet dabei, dass alles, was in der Welt passiert, den Naturgesetzen gehorcht, so wie sie von der Naturwissenschaft ermittelt werden.
Das gilt auch für uns Menschen. Sind wir Menschen nicht als göttliche – theistische oder deistische – Schöpfung vom Himmel gefallen, dann sind wir auf natürliche Weise entstanden. Wir selber gehen, wie alles Leben auf der Erde, allein aus der Natur hervor und sind das Ergebnis einer naturgeschichtlichen Entwicklung. Den Rest erklären im Prinzip die französischen Biologen Jean-Baptiste Lamarck und Geoffroy Saint-Hilaire – jene kosmopolitischen Zoologen, welche den Affen für den Ahnherrn des Menschengeschlechts erklären; die Menschen sind nach ihrer Meinung nur ausgebildete, ja überbildete Affen : Zuerst kam es durch einen natürlichen Übergang von der anorganischen zur organischen Materie auf der Erde zur Entstehung des Lebens; sodann durch organische Höherentwicklung von den niedersten Lebewesen bis herauf zu unserer heutigen Form.
Die deutschnationalen Idealisten dagegen tun alle so, als wäre dies eine ganz unerhörte und unwahrscheinliche Ansicht, dabei ist der Naturalismus auch im Denken das Natürlichste von der Welt. Meist wird dem wissenschaftlichen Naturalismus von seinen Kritikern irgendeine vermeintliche Naivität oder sonst irgendeine Dummheit unterschoben; sie sind dann stolz darauf, ihn damit ,widerlegen' zu können, währenddem sie in Wahrheit nur ihre dummen Unterstellungen widerlegen. Um rechter Wissenschaftler und Philosoph zu sein , schreibt Lamettrie dagegen, genügt es nicht, die Natur zu erforschen und die Wahrheit zu finden. Man muss auch den Mut haben, die Wahrheit auszusprechen, und zwar für die kleine Zahl derer, die denken wollen und können. Den anderen, die willfährige Sklaven von Vorurteilen sind, ist es indes so unmöglich, zur Wahrheit zu gelangen, wie es Fröschen unmöglich ist, zu fliegen . Demnach besteht ein Großteil der herkömmlichen Schulphilosophen aus Fröschen.
Zurück geht die naturalistische Lehre schon auf die alten Griechen: Leukipp, Demokrit, Epikur, die leider sämtlich nur fragmentarisch überliefert sind. Ausführlich referiert wird sie von dem Römer Titus Lucretius Carus. Béa und Harry lesen ihn, wie alle römische Autoren, in der zweisprachigen Ausgabe der Büchnerschen Übersetzung.
Da ist es zumal das fünfte Buch von Lukrez' Die Natur der Dinge , ,Welt aus Atomen', das sie seiner unterschwelligen Modernität wegen frappiert. Der grandiose Autor schreibt in Hexametern:
Drum hat noch und noch die Erde empfangen den Namen
Mutter und trägt ihn mit Recht, da sie selber der Menschen Geschlechter
schuf und fast zugleich in bestimmter Zeit sie die Tiere
aus sich ergoss, ein jedes, das tollt in den mächtigen Bergen
allüberall, und zugleich die Vögel in wechselnden Formen.
Weil sie jedoch einmal zum Schluss kommen muss des Gebärens,
hörte sie auf, wie ein Weib, das erschöpft vom Alter des Lebens.
Wandelt doch die Zeit das Wesen der Welt hier im ganzen,
nacheinander muss Zustand nach Zustand aufnehmen alles,
keines bleibt ähnlich der Dinge sich selber: alles ist fließend,
alles tauscht die Natur und zwingt es, sich zu verwandeln.
Damals hat auch die Erde versucht, in Menge zu schaffen
Ungeheuer, gebildet von seltsamem Aussehn und Gliedern,
Zwitter, mittenin, weder Mann noch Weib und von beiden
weit entfernt, zum Teil der Füße beraubt, ohne Hände,
andre, sich stumm ohne Mund, ohne Blick in Blindheit erfindend
und gefesselt am ganzen Leib durch Anwuchs der Glieder,
dass sie zu tun nichts noch irgendwohin zu weichen vermochten,
noch zu vermeiden Gefahr, noch zu nehmen, was ihnen Bedürfnis.
Und was sonst noch sie schuf an solchen Gebilden und Wundern,
ganz umsonst, da Natur den Wuchs den Wesen versagte,
nicht zu berühren imstand sie waren die Blüte des Alters,
die sie ersehnt, nicht Nahrung zu finden, zu einen sich liebend.
Viel muss, sehen wir doch, zusammenkommen den Dingen,
dass durch Vermehrung imstand sie, hervorzubringen den Nachwuchs;
Nahrung muss sein zuerst, dann wo die erzeugenden Samen
durch die Glieder aus lockerem Leib ergießen sich können,
und dass Mann mit Weib vereinen sich kann, dass beide besitzen
Mittel, mit denen jedes wechselnde Freude sich austauscht.
Nicht einer übernatürlichen Schöpfung verdankt sich mithin das Leben, sondern einem natürlichen organischen Wachstum von den niedersten bis zu den höchsten Lebensformen. Diese natürliche Entstehung und Höherentwicklung von Tier und Mensch heißt neuerdings nach Lamarcks und Saint-Hilaires Lehre Evolution .
Das ist wissenschaftlicher Realismus reinsten Wassers und modernster Façon, der keine göttliche Schöpfung mehr braucht, um die Welt zu erklären. Mal wird es der materialistische Naturalismus , mal der naturalistische Materialismus genannt, immer aber ist es der moderne wissenschaftliche Realismus. Der mythologische Schöpfungsglaube wird vom Kopf auf die Füße gestellt, und das Leben überhaupt erst dadurch rational und naturgesetzlich begreifbar.
Man hört gelegentlich die Behauptung, die Alten hätten für diesen Prozess, zumal für die Gerichtetheit der Entwicklung vom Niederen zum Höheren, noch keine einleuchtende Erklärung gehabt. Das ist aber ziemlich fraglich, denn auch der logische Mechanismus der Evolution ist bei Lukrez bereits angedeutet, wie seine Stelle über die ,Ungeheuer' zeigt. Das ursprüngliche natürliche Wachstum: die ,Phantasie der Natur', führt von sich aus zu allen möglichen organischen Gebilden. Das Meiste davon ist nicht lebensfähig. Das wuchernde Organische allein führt zu heillosem Durcheinander und Chaos. Es fehlt die ordnende Kraft, die das gestaltlos Entstehende in eine ,sinnvolle' Form gießt und in geordnete Bahnen lenkt. Diese ordnende kanalisierende Kraft – die in Wahrheit keine ,Kraft', sondern eine automatisch wirkende Gesetzmäßigkeit ist – ist laut Lukrez der natürliche Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Lebensformen, eine Art natürliche Auswahl . Später wurde es ,Selektion' genannt.
Existieren die diversen Lebensformen doch nicht jede für sich und unabhängig voneinander, sondern stets miteinander und sogar voneinander : Die eine frisst die andere. Die Tiere fressen die Pflanzen und werden wieder von anderen Tieren gefressen. Es ist in der freien Natur ein einziges Werden und Vergehen, Fressen und Gefressenwerden. Zwischen den Tieren herrscht ein ständiger Kampf um die natürlichen Nahrungs- und Energiequellen. Die ,Ungeheuer' des Lukrez sind also keine mythologischen Fratzen, – sondern solche realen organischen Ausgeburten, die ihrer misslungenen Natur wegen zum Überleben nicht taugen. Entweder versagen sie eines angeborenen Defekts und Geburtsfehlers wegen schon im Moment ihrer Entstehung, in statu nascendi , dann überleben sie nicht einmal ihre Geburt; oder sie sind, einmal am Leben, der Konkurrenz der anderen Tiere nicht gewachsen, dann bleiben sie irgendwann im Überlebenskampf auf der Strecke.
Sogar solche Kreaturen, die an sich lebenstauglich wären und im Prinzip existieren könnten, überleben dennoch nicht, wenn sie mit anderen Tieren konkurrieren müssen, die ihnen über sind. Kurz, es fehlt ihnen die notwendige Tüchtigkeit für das Leben, die fitness for life . Überleben kann nur, was sich im Lebenskampf bewährt; und sich bewähren kann nur, was die geeignete Fitness hat. Lukrez spricht von arterhaltenden Eigenschaften, weil sie die Tierart am Leben erhalten:
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