Ganz besonders scheint die Jüngste
Tiefbewegt. In ihrem Herzen
Fühlt sie schon ein sel'ges Jucken,
Ahndet sie die Macht Cupidos.
Er dagegen überfliegt die ausgestellte Ware und kommt zu dem Schluss, dass er mit keiner von ihnen etwas zu tun haben möchte.
Das kann den Dichter Ludwig Büchner nicht vorgeschwebt haben, als er in seinem Danton die Geschichte der mänadisch allesverschlingenden Dirne Marion erzählt: Ein junger Mensch kam zu der Zeit ins Haus; er war hübsch und sprach oft tolles Zeug; ich wusste nicht recht, was er wollte, aber ich musste lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das war uns beiden recht. Endlich sahen wir nicht ein, warum wir nicht ebensogut zwischen zwei Betttüchern beieinander liegen, als auf zwei Stühlen nebeneinander sitzen durften. Ich fand dabei mehr Vergnügen als bei seiner Unterhaltung und sah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren und das Größere entziehen wollte. Wir taten's heimlich. Das ging so fort. Aber ich wurde wie ein Meer, was alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann da drüber hinaus? … die Leute weisen mit Fingern auf mich. Das ist dumm. Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen; es ist das nämliche Gefühl; wer am meisten genießt, betet am meisten .
Aus der Literatur besinnt er sich wieder auf die Realität. Er tut, als sei er bloß in Begleitung Simons gekommen, der ihm freie Option lässt und nach kurzer Verhandlung mit einer unappetitlichen Dicken ins Hinterzimmer verschwindet. Vermutlich lässt er sich aus Angst vor Geschlechtskrankheiten gerade einen Schafsdarm überziehen. Harry fasst sich in Geduld und weicht mit gleichgültiger Miene den Blicken ein und der anderen Sylphide aus, die die Hoffnung auf das leckere Zubrot nicht aufgeben will. Er spürt aber nicht die Spur einer Lockung, will nicht seine Sinne schänden und seinen Samen für nichts und wieder nichts vergeuden. Für Hekuba!
Er gedenkt des strengen Urteils von Rousseaus Julie ou la nouvelle Héloïse : „Ich weiß nicht, ob Ihre bequeme Philosophie bereits die Grundsätze annimmt, die, wie man sagt, in großen Städten für die Duldung solcher Orte aufgestellt werden; aber wenigstens hoffe ich, dass Sie nicht zu denen gehören, die sich selbst genug verachten, um sich deren Gebrauch unter dem Vorwand irgendeiner – ich weiß nicht, welcher – eingebildeten Notwendigkeit, die nur die Menschen von schlechtem Lebenswandel kennen, zu erlauben. Als ob in diesem Punkte die beiden Geschlechter verschiedener Natur wären und der rechtschaffene Mann zur Zeit der Trennung oder im ehelosen Leben Hilfsquellen haben müsste, deren das rechtschaffene Weib nicht bedürfte! Führt Sie dieser Irrtum auch nicht zu öffentlichen Buhlerinnen, fürcht' ich doch sehr, dass er Sie noch ferner mit sich selbst verwirren werde. Ach! wollen Sie verächtlich sein, so seien Sie es wenigstens ohne Vorwand, seien Sie nicht noch Lügner bei Ihrem wüsten Leben! Alle diese vorgeblichen Bedürfnisse haben ihre Quelle keineswegs in der Natur, sondern in dem freiwilligen Verderbnis der Sinne. Selbst die Täuschungen der Liebe läutern sich in einem keuschen Herzen und verderben nur das schon verdorbene. Die Unschuld hingegen hält sich durch sich selbst aufrecht; die immer wieder zurückgedrängten Begierden gewöhnen sich daran, nicht wieder zu erwachen, und die Versuchungen vervielfältigen sich nur durch öfteres Unterliegen.“
Dein Wort in Gottes Ohr, rousseausche Julie! Simon ist, als er seinen Rotz los geworden, schneller zurück als erwartet, ordnet sein Hemd, entrichtet sein Scherflein und sagt auf baldiges Wiedersehen. Harry ist froh, als sie im Freien erneut in die keusche Tiefe der Nacht eintauchen. Später erinnert er sich an hier und andernorts: Ich habe Weiber gesehen, auf deren Wangen das rote Laster gemalt war, und in ihrem Herzen wohnte himmlische Reinheit. Ich habe Weiber gesehen – ich wollt, ich sähe sie wieder! –
Béatrice – Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden, meine Sünde, meine Seele , wie er es irgendwo las.
Béatrice –
mein arges Glück ...
Seine glücklichste Jugendliebe ist Béatrice – auf der letzten Silbe wie „-trieß“ gesprochen, oder abgekürzt einfach Béa –, auch wenn es nur eine platonische ist. Ich war immer der Meinung, dass man in der Liebe besitzen müsste, und habe immer Opposition gebildet gegen die Entsagungspoesie; aber das Platonische hat auch sein Gutes, es verhindert einen nicht, am Tage zu träumen und des Nachts zu schlafen, und jedenfalls ist es nicht sehr kostspielig . Mit ihr treibt er seine philosophischen Studien weiter, nachdem er Schallmeyerns Kurs seiner wachsenden weltanschaulichen Opposition wegen verließ. Béa teilt seine leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit, wie er sie „mit düstern Lippen“ in den Fragen aus dem Zyklus Die Nordsee stellt:
Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer
Steht ein Jüngling-Mann,
Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel,
Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen:
„O löst mir das Rätsel des Lebens,
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andre
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?
Es murmeln die Wogen ihr ew'ges Gemurmel,
Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort.
Kein Wunder, dass er im Grunde ein Narr bleiben muss, denn die aufgeworfenen Fragen sind zu seiner Zeit wissenschaftlich nur recht unzureichend beantwortbar. Trotzdem ist sein Verhältnis zum jüdischen Glauben seiner Väter, und zur Religion an sich, immer kritischer geworden, – und damit auch das zu seinem Mentor Ägidius Schallmeyer, der aller scheinbaren Intellektualität zum Trotz aus seinen theologisch-rabulistischen Bahnen nicht heraus findet. Harry neigt mehr und mehr dem Atheismus zu und stellt, während die anderen Gruppenmitglieder eher indifferent und meinungsenthaltsam bleiben, die Sinnhaftigkeit selbst seiner avantgardistischen Gottesvorstellung radikal in Frage.
Die abstrakt-paradoxe Logik des intellektuellen Katholiken (– im Grunde ein Widerspruch in sich) ist ihm schlechtweg nicht konsequent genug. Kennt er schon keinen persönlichen Gott mehr, der im Gebet zugänglich und ansprechbar ist, – wieso das widersinnige Konzept dann nicht überhaupt konsequent fallenlassen? Schnurrt ,Gott' nur noch auf ein unpersönlich-anonymes Etwas zusammen, das einmal die Welt wie ein Uhrwerk aufzog und sie dann ihrem Schicksal überließ, – wieso dann nicht gleich so ehrlich sein und sich auf die Natur selbst beschränken? Warum nicht einfach redlich zugeben, dass die Welt ihren Grund geradeso gut auch in sich selber haben kann: Persönlichkeit Gottes als Geist ist ebenso absurd wie der rohe Anthropomorphismus , schreibt er später einmal. Denn die geistigen Attribute bedeuten nichts und sind lächerlich ohne die körperlichen. Zum Beispiel, Gott ist die Liebe (er hat ja keine Galle), Gott ist gerecht (er hat keinen Magen, der ihn zwingt, um gefüttert zu werden, Ungerechtigkeiten zu begehen), er ist weise (kein Schnupfen hindert ihn am Nachdenken), er ist die Tugend selbst (er hat ja keine Geschlechtsteile) .
Der Gott der besten Spiritualisten, dieser Gott, eine Art von luftleerer Raum im Reich des Gedankens – angestrahlt von der Liebe, die wieder ein Abglanz der Sinnlichkeit –
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