Carly
Sie fingen früh an. Carly wollte sich den Bericht des gefassten Partisan ansehen, doch der war wenig informativ, so wie sie es bereits ahnte. Keiner der Viper redete. Sie waren auf strikte Loyalität geschult worden und absolute Verschwiegenheit im Verhör. In einer Stunde würden sie ihn versetzen. Man hatte ihm einen sicheren Raum vorbereitet, in dem man ihn, gleich vor Ort im Pentagon, verhören konnte. Carly sah sich den Bericht der Profiler an. Die Beschreibung passte auf jeden Dritten der Viper Mitglieder. Bisher hatte sie sich auch nicht die Mühe gemacht, den schon gefassten unter die Lupe zu nehmen.
Wer von ihnen konnte es sein, den sie gefasst hatten? Vielleicht würde sich Aiden später darum kümmern. Carly rieb ihre Schläfen. Obwohl sie die gestrige Kneipentour abgesagt hatte, fühlte sie sich schlapp und müde. Wieder hatte sie einen dieser Träume, die sie aus dem Schlaf rissen. Sie hatte geweint, als sie wach wurde, so wie sie es oft tat. Sie hatte von Tate geträumt, wie sie damals gemeinsam als Kinder gespielt hatten. Dass sie ihn hier wieder getroffen hatte, hatte sie, zugegeben, etwas aus der Bahn geworfen. Sie war ziemlich erleichtert, als bloß Agent Oconnel und Agent Bouchard bei den weiteren Ermittlungen dabei waren. Auch wenn sie weder den einen, noch den anderen, leiden konnte.
Vielleicht hatte Tate auch darum gebeten, sich lieber um andere Dinge kümmern zu können. Als sie ein Blatt in der Hand hielt, fiel ihr Blick auf ihren Ehering. Du bist also jetzt verheiratet? Es hatte ihn verletzt, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Und es war Carly unangenehm gewesen, dass ihm der Ring aufgefallen war. Wenn sie ihm bloß erklären könnte, was in den letzten Jahren passiert war. Nein, was ihr ganzes Leben schon schief gelaufen war. Falsche Eltern, eine falsche Kindheit, die Ausbildung zu einer Viper unter Hypnose und ihre Aktivierung vor acht Jahren, als sie Amber und sie gefasst hatten. Es gab so viel, was sie Tate erzählen wollte. Aber sie konnte es nicht. Sie durfte es nicht. Es würde ihn in Gefahr bringen. Schon jetzt war er ihrem Mann aufgefallen und dieser wusste genau, wer Tate war. Und sie wusste, dass er sie beobachten ließ.
Aiden war nahezu immer in ihrer Nähe. Ihr Mann würde nicht zögern, Tate zu töten, wenn er ihnen in die Quere kam. Und besonders, wenn er ihr zu nahe kam. Auch ihr würde es nicht gut tun. Es würde sie wieder zerbrechen, so wie damals. Tate hatte einfach weiter gemacht. Er hatte sein Ziel erreicht, zum FBI zu gelangen und dort zu arbeiten. Und Carly hing viel zu tief in einem Kreis, den sie nie wieder loswerden würde. Wenn einen die AD´V´C einmal ausgesucht und eingespannt hatte, würde sie ihn auch bis in den Tod begleiten. Das hatten sie ihr selbst gesagt.
Cerys redete und redete neben Carly, stellte komplizierte Überlegungen an, als sie sich die Muster mit Colonel Prick ansah. Eigentlich hätte Carly dabei sein sollen, Mitten im Gespräch. Doch sie war in Gedanken ganz wo anders. Als sie blinzelnd auf sah, bemerkte sie, wie Aiden sie beobachtete. Sie wusste, dass sie zu auffällig war. Er würde es merken.
Viper waren sehr feinfühlig und konnten gut beobachten. Sie schenkte ihm ein schmales Lächeln. Er nickte ihr zu und ließ seine Finger über einige Bilder gleiten. Dann, kaum dass Carly es bemerkte, tippte sein kleiner Finger auf eines in der Mitte, auf dem das Parlament abgebildet war. Aiden räusperte sich, als er sich Colonel Prick zuwendete.
„Ist am 15 August um 8.15 Uhr nicht diese Benefiz Gala?“
Nun warf er auch Carly einen vielsagenden Blick zu. Ein Zeichen. Colonel Prick nickte. „Ähm, um 8, ja. Was ist damit?“
„Wäre es nicht möglich... ich meine, soviel ich weiß, wird die First Lady dort sein, richtig?“
Colonel Prick sah ihn alarmiert an. „Aber warum sollten sie es auf sie absehen?“
„Ich mein nur. Sie sollte vorsichtig sein, wo hin sie ihre Ausflüge plant.“
Colonel Prick nickte. „Da haben Sie wohl Recht. Der Secret Service ist überall an ihrer Seite, doch man weiß nicht, was für kranke Pläne die AD`V`C noch schmieden. Ich werde diese Überlegung umgehend weiterleiten.“
Carly schürzt die Lippen. Am 15 August also. Das war in vier Tagen. Während sich Colonel Prick entschuldigte, um zu telefonieren, machte der Rest der Gruppe eine Kaffeepause. Aiden ging eng an Carly vorbei, als er flüsterte: „Wir brauchen Zutritt in die Waffenkammer. Lass dir was einfallen.“
Carly reagierte nicht, trotzdem wusste er, dass sie es gehört hatte. Hätte sie aber genickt, wäre es zu auffällig gewesen. Carly blieb alleine im Raum zurück und schlenderte um den Tisch herum. Dann warf sie einen Blick auf das Bild, dass das Parlament zeigte. Was hatten sie vor?
Sie saß am oberen Absatz der Treppe. Ihre neue Mommy war den ganzen Morgen schon nervös gewesen. Beim Frühstück hatte sie kaum still sitzen können und trank einen Kaffee nach dem anderen. Ihr Mann hatte schmunzelnd den Kopf geschüttelt und gesagt, dass das nicht wirklich helfen würde. Heute würde Lynn jemanden ganz Wichtiges kennen lernen. Mommy hatte gesagt, dass Lynn sie mögen würde. Aber es war wichtig, dass sie sich an ihren neuen Namen gewöhnte. Carly.
Ihr neuer Daddy kam aus dem Schlafzimmer und lächelte, als er sie dort sitzen sah. „Hat sie dich mit ihrer Aufregung angesteckt?“
Lynn zuckte ihre schmalen Schultern. Für einen Moment dachte sie, er würde einfach weiter gehen, als er die ersten beiden Stufen hinab stieg. Doch dann setzte er sich neben sie auf die Treppe. „Sie ist eine nette Frau.“ Er räusperte sich und fühlte sich wohl etwas unbehaglich. „Carol... deine Mom, hat sie sehr lieb. Sie ist ihre Schwester.“
Es war das erste Mal, dass er sie so nannte. Ihre Mom. Auch, dass er nun Lynns Hand nahm und sie hielt, war neu. Bisher hatte er den engeren Kontakt zu ihr immer vermieden.
„ Ich möchte, dass du weißt, dass auch ich dich gerne aufnehme, ok?“ Seine Stirn bildete tiefe Falten. „Ich bin bloß nicht so geschickt darin, das zu zeigen.“
Lynn nickte. „Ich möchte nicht, dass du sie anschreist.“
Er blinzelte verblüfft und musterte Lynn.
„ Manchmal, wenn ihr streitet, habe ich Angst vor dir“, flüsterte sie.
Avery nickte langsam. „Ich möchte nicht, dass du Angst vor mir hast.“
„ Gut.“ Lynn stand auf und stieg die beiden Stufen hinauf. Kaum das sie oben angekommen war, hielt sie inne. Dann wirbelte sie herum und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie auf ihrem Zimmer verschwand. Vielleicht war er gar nicht so schlimm, wie sie zu Beginn dachte. Sie hatte gesehen, wie er ihre Mommy in den letzten Tagen angesehen hatte, wie er gelächelt hatte, als er sie lächeln sah. Als sie das erste Mal richtig glücklich wirkte. Er hatte sie oft in den Arm genommen und geküsst. Lynn hatte das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte, seit sie das Haus gekauft hatten. Und vielleicht gab es doch die Möglichkeit für sie, ein Leben zu haben, wie sie es sich nie zu träumen gewagt hatte.
Carly schreckte aus dem Schlaf hoch, als ihr Wecker klingelte. Zittrig wischte sie mit ihrer Hand über ihre schweißnasse Stirn. Sie hasste es, von ihrer Kindheit zu träumen. Doch es wurde mit der Zeit immer schlimmer, desto mehr passierte. Vielleicht setzte ihr die derzeitige Situation auch einfach zu sehr zu. Die fortlaufende Recherche für die AD´V´C, Avery, die Zusammenarbeit mit dem FBI. Und vor allem Tate.
Sie schwang die Beine über den Bettrand und schleppte sich ins Badezimmer. Im Spiegel entdeckte sie dunkle Schatten unter ihren Augen. Alles war noch viel einfacher, als sie ihren Job als Doppelagentin ausrichten konnte, ohne noch zusätzlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden. Doch nun, wo sie auf Tate getroffen war, arbeitete so viel in ihrem Kopf. So viele Gedanken. Und Emotionen, etwas von dem sie längst gelernt hatte, es ausschalten zu können. Doch seit sie hier waren, ging es einfach nicht. Ihr Herz pochte, wenn sie nur an ihn dachte. Sie würde ihm so gerne erklären, warum sie damals nicht mehr zurückgekommen war. Wer sie wirklich war. Doch würde er ihr überhaupt glauben? Und wenn er das tat, würde er sie nicht verurteilen und das zu Recht? Sie war eine Verräterin, ein Spion. Und dann musste sie sich fragen, ob sie überhaupt je diese Carly gewesen war, die sie ihm vorgegeben hatte, zu sein.
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