„Gut“, sagte Kim. „Dann nehm das auf Kopf un komm.“ Er reichte uns beiden jeweils eine weiße Mütze, die wir zu einem bestimmten Augenblick der Zeremonie aufsetzen sollten, wie er uns auf der Straße erklärte. Ich hob meine Mütze in Janines Blickfeld und deutete ein belustigtes Grinsen an, aber sie ließ mich spüren, dass sie die Situation alles andere als lustig fand.
Kim führte uns aus dem Ort hinaus, der wie ausgestorben schien, hinauf auf eine Anhöhe, eine Art hügeligen Vorsprung unterhalb des Bergmassivs, aber einige hundert Meter oberhalb der Ortschaft. Als wir an unserem Ziel ankamen, hatte ich mein Unterhemd schon durchgeschwitzt; Janine schien von ihrem Kater erholt. Ihre körperliche Fitness war ohnehin makellos.
Was uns erwartete, war bisher ungesehen. Ich schätzte, dass es die gesamte Einwohnerschaft von Tongsa war, die sich hier versammelt hatte. Alle, vom Greis bis zum Säugling, waren in weiß gekleidet. Als man mich erblickte, wurde getuschelt, freundliche Blicke und Gesten wurden mir entgegen gebracht. Ich war der vermeintliche Held; Janine hingegen ignorierte man. Kim war zwar ein Fremder, aber er führte sich auf, als orchestriere er das gesamte Geschehen, als einziger erhob er die Stimme, stellte Fragen und gab Anweisungen. Schließlich wurden wir als eine Art Ehrengäste in die erste Reihe gestellt. Sämtliche Anwesenden wirkten niedergeschlagen, ihre Gesichter erinnerten mich wieder an meine Schuld, aber irgendwie konnte ich nicht anders, als über das Geschehene zu lachen, und als mein innerliches Grinsen nach außen ausschlug und meine Zähne entblößte, tat ich so, als müsste ich gähnen. Von Janine erntete ich dafür einen vernichtenden Blick..
Keine drei Meter vor uns stand ein Scheiterhaufen. Das windschiefe, wacklige Bauwerk flößte mir Furcht ein. Würde man jetzt die Alte vor unseren Augen verbrennen? Würde das Fleisch in den Flammen erst die Farbe wechseln und dann verbrutzeln, zerschmelzen und verdampfen, und schließlich zu schwarzer Asche zerbröseln und zerfallen? Würde sich die Haut unter der Hitze vom Kopf lösen und sich somit ein Totenkopf aus dem Gesicht der Verstorbenen schälen? Würde der Geruch von brennendem Holz sich mit dem von verglimmendem Stoff und verkohlendem Fleisch vermischen, und so eine Art Weihrauch ergeben, bei dem ich direkt hier, vor der Versammlung, auf den Boden erbrechen müsste? Oder würde es nur eine Ansprache eines Mönchs oder Priesters geben, und wir könnten den Berg hinabsteigen, ohne Zeugen der vom Menschen beschleunigten Verwesung zu werden? Ich konnte Janine ansehen, dass sie sich ähnliche Fragen stellte und dass ihr nicht wohl zumute war. Ihr Unbehagen ertränkte sie in Gemurmel und nervösem Pendeln der Arme. Kim stellte sich neben uns und bat uns, die Mützen aufzusetzen.
Eine Weile war Stille. Dann hörte ich Gesang. Aber es war kein Totengesang, wie man ihn erwartet hätte, kein polyphones Moll, welches hier angestimmt wurde, sondern ein fröhliches Liedchen, das aus vielen Mündern zu einer Hymne der Freude anschwoll. Schon erblickte ich den Chor. Tanzend und springend kam er den Berg herauf. Er bestand nur aus jungen Frauen in weißen Kleidern mit roten Schärpen, rotem Unterrock und schwarzem Kopfschmuck. Die Mädchen hielten sich an den Händen, drehten sich im Kreis, sprangen aneinander vorbei, ohne jedoch dabei als Gruppe zum Stillstand zu kommen. Als sie die Menge sahen, leuchteten ihre Gesichter auf und ihr Gesang, ihr Jauchzen wurde lauter. Bald tanzten sie um den Scheiterhaufen herum, bahnten sich den Weg durch die Trauermenge, badeten in ihr und sangen Angehörigen wie Nachbarn das reinste Frohlocken ins Gesicht. Dann wieder vereinten sie sich und führten einen Wirbeltanz auf
Stirnrunzelnd fragte ich Kim, was das alles solle.
Er beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Flaun sin Weiba füa Jubel. Mach viel Spaß. Alle Menschen soll jubel, weil Flau gestobe.“
„Warum? Hier sind doch alle todtraurig. Die Frau ist tot.“
„Ja. Aba Buddha sag, Tod nix schlimm, veasteh?“
„Ich verstehe gar nichts.“
Ungeduldig sah er mich an. „Weiba hia Jubelweiba. Jubel weil Flau wiedageboan als Kind oda Tia oda Baum. Nix tot füa imma.“
„Sie sollen die Leute aufheitern?“
„Jaa“, flüsterte er gerade so laut, dass ich ihn durch die zusammengelegten Hände verstehen konnte. „Alle Leut soll sein flöhlich. Klosta hol Jubelweiba aus Thimphu, damit mach gut Beeadigung.“
Skeptisch blickte ich auf die Menschen, die sich so gar nicht der guten Stimmung der bezahlten Bespaßer ergeben wollten. „Na, dann“, sagte ich, ohne Kim noch einmal anzusehen. Janine verzog ob dieser würdelosen Veranstaltung indigniert das Gesicht. Sie wirkte wie auf dem Sprung, als würde sie jederzeit ins Tal rennen wollen.
Der Gesang verebbte nicht, aber er brachte auch nicht die erhoffte Wirkung. Dann sah ich eine Traube Mönche den Berg herauf stolzieren, sie führten eine Prozession an. Inmitten der Leute wurde die alte Frau auf einer Bahre getragen. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass sie nackt war. Bei der Leiche eines alten Menschen ist Nacktheit ein äußerst unschöner Anblick, denn der Tod vermag es nicht gerade, den verwelkten Körper wieder ansehnlicher zu machen. Ich wandte den Blick ab, als man die Frau auf den Scheiterhaufen legte. Janine hielt sich die Augen zu. Ein Mönch sprach etwas zu uns Trauergästen, die wir immer noch von den Tanz- und Gesangsprostituierten belästigt wurden. Die übrigen Mönche verbeugten sich erst vor uns, dann vor dem Scheiterhaufen. Ich wandte den Blick um, sah aber nirgends jemanden mit einer Fackel oder wenigstens einem Feuerzeug. Ein unbekanntes Gefühl durchschnitt mir die Brust; etwas Schwarzes.
Bald standen wir schon eine halbe Stunde in Erwartung des Ereignisses herum, noch immer das gesungene Süßholzraspeln in den Ohren, da fragte ich Kim, wann denn der Scheiterhaufen endlich angezündet würde.
Er sah mich verständnislos an.
Ich wiederholte meine Frage. Feuer, Holz, Leiche.
Entsetzen sprang ihm ins Gesicht. „Nix Feua. Feua heilig. Nix tot Körpa in Feua. Nix tot Körpa in Wassa, nix in Erde, nix in Luff. Alle heilig.“
„Was? Was meinst du damit, das Feuer ist heilig?“
„Nix nua Feua. Au Wassa, Luff, Erde.“
„Die Elemente sind heilig?“
„Ja. Genau. E-le-men-te. Nix tota Körpa wo heilig.“
„Ja, aber was passiert dann mit dem Leichnam, Kim?“
„Vogel komm un Flau esse.“
„Vögel essen den Leichnam? Das dauert doch ewig.“
„Gloße Vogel komm. Viel gloße Vogel.“
„Was für große Vögel?“ Ich hob eine Augenbraue.
„Vogel, die esse tot Tia.“
„Meinst du Geier? Gibt es Geier hier?“
„Ja, Geia. Kim nix weiß Woat, aba Phili weiß Woat.“
Mir drehte es den Magen um. „Das ist ja widerlich. Und wir sollen dabei zusehen?“
„Nei.“ Er sah mich belehrend an. „Nix ganz Zeit. Aba warte bis gloß Vogel komm. Dann geh, weil Vogel bessa allein esse.“
„Wie soll denn der Geier kommen, wenn hier so viele Menschen sind, Kim?“ Ich sah ihn ernst an.
„Geia Hunga.“ Er rieb sich den Bauch. „Geia komm schnell.“
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, deren Bedeutung er nicht verstand. Der Geier kam nicht schnell. Ich wusste zu wenig über den Buddhismus, aber ich meinte einmal über eine Religion gelesen zu haben, deren Anhänger auch ihre Toten von Tieren verzehren ließ. Abartig. Verachtenswert . Abstoßend. Je länger ich hier stand, desto stärker zwang der Leichnam meinen Blick auf sich. Immer wieder musste ich meine Augen zügeln.
Inzwischen hatten die Jubelweiber wenigstens die Kinder dazu bringen können, ein wenig mehr Lebensfreude zu zeigen als die Erwachsenen. Manche hatten sich den Mädchen angeschlossen und tollten herum, ohne eine Reaktion ihrer Eltern zu provozieren. Es war, als wäre das Gewicht auf aller Herzen um ein paar Gramm leichter geworden. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Horde weiblicher Jahrmarktsgaukler hier völlig deplatziert war. Janine hatte im Stehen den Kopf auf die Brust gelegt, wollte von all dem so wenig wie möglich mitbekommen. Sie war wie um zwanzig Jahre gealtert, machte nicht mehr den Eindruck einer frechen, jungen Verführerin auf mich, sondern den einer Mutter, der man ihr Kind weggenommen hatte. In diesem spätnachmittäglichen Licht konnte die Farbe ihrer Haare genauso gut grau sein, die Schatten in den Lachfalten genau so gut von Altersfurchen geworfen. Und lächerlich war gar kein Ausdruck für das Käppi auf ihrem hübschen Köpfchen.
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