Genau so war es. Ich klopfte an ihrer Tür. Ich klopfte und klopfte. Niemand öffnete mir. Also wartete ich eine Stunde, auf dem Boden des Hausflurs. Noch eine Stunde. Schließlich hörte ich, wie der Riegel zurückgeschoben und das Schloss herumgedreht wurde. Sie erschrak, als sie mich so vor sich sitzen sah. Ihre Augen waren mit einem Film überzogen, der ihr den Anschein von Entrückung verlieh, aber ihre Bewegungen waren zielstrebig. Ohne mich auf den Vorabend anzusprechen, sagte sie: „Komm, wir gehen was trinken.“ Ihr Atem war eine Mischung aus Zahnpastageruch und dem ätzenden Odem von Gebranntem.
„Ich gehe nichts trinken. Und du auch nicht“, sagte ich, stand auf und klopfte den Schmutz von meiner Hose.
„Was?“ Sie tat so, als hätte sie mich akustisch nicht verstanden.
„Du hast schon richtig gehört.“
„Was ist denn mit dir los?“ Sie sah mich verärgert an.
„Das muss alles aufhören, Janine.“
Wegwerfend wischte sie mit der Hand durch die Luft. „Ich weiß, was aufhören muss. Du musst aufhören, so prüde zu sein. Du musst aufhören, deine Natur zu verleugnen.“
„Ach was. Unsinn. Wir dürfen nichts mehr trinken. Gar nichts. Nicht einmal einen Schluck. Das macht uns alle noch verrückt. Wenn du wieder bei Besinnung bist, hört vielleicht auch deine fixe Idee auf, dass ich mit dir schlafen soll.“
„Das ist keine fixe Idee, Philipp. Das ist mein größter Wunsch. Du bist... du bist... du bist sexy. Ja, du bist attraktiv!“ Sie machte einen Schmollmund.
„Ich bin vor allem verheiratet. Und ich möchte jetzt endlich meine Arbeit machen.“
„Arbeit? Was soll denn deine Arbeit sein?“
Ich stockte. War ich mit zu viel herausgerückt? „Das sage ich dir, wenn du aufgehört hast, diesen Müll in dich rein zu kippen.“
Sie verlor den Halt und stützte sich an der Wand ab. „Das ist kein Müll. Das ist ein Lebenselixier. Ja, das ist es!“
„Hast du noch davon?“
„Ja, klar. Du kannst gleich ein Glas haben, wenn du willst...“
„Wo?“
„Auf der Anrichte. Es ist meine letzte Flasche, deswegen...“
Ich stürzte an ihr vorbei durch die Türe und hörte sie sogleich in meinem Rücken das Wettrennen mit mir aufnehmen. Doch ich war nüchterner und deshalb schneller. Ich packte die Flasche am Hals, sprang damit zum Fenster, das ich aufriss, und kippte den Inhalt auf die Straße. Unten hörte ich Überraschungsrufe.
Janine ergriff meinen Unterarm, und für eine Weile wogte der Kampf um den letzten Schluck, der sich noch in der Flasche befand. Dann ließ ich die Flasche los und blickte in fassungslose Augen. Sie löste den Griff um meinen Arm und scheuerte mir mit der freigewordenen Hand eine. Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. „Du Arsch!“, keifte sie.
„Damit ist jetzt Schluss“, bekräftigte ich noch einmal.
Unten hatte sich die Überraschung in Aufregung verwandelt.
Janine sah besorgt hinunter. „Sieh mal, was du getan hast!“
„Ist mir schnurz. Ich habe gemacht, was ich machen musste.“
Sie wandte die aufgerissenen Augen nicht von der Straße ab. Bedenklich runzelte sie die Stirn. „Wie sollen wir so noch auf die Straße gehen?“
„Wir gehen nicht auf die Straße. Du bleibst jetzt hier, bis du nüchtern bist.“
Meine Worte beeindruckten sie weiterhin nicht. Immer noch blickte sie wie gebannt hinunter.
Allmählich glaubte auch ich, dass mein Flaschenwurf ernsthafte Folgen gezeitigt hatte. Beklemmung beschlich mich, noch bevor ich den Kopf aus dem Fenster steckte. Doch als ich schließlich hinuntersah, musste ich vor Erleichterung beinahe auflachen. Unten hatte sich eine Menschentraube gebildet, genauer gesagt, die Passanten hatten einen Kreis um die Einschlagstelle der Flasche geschlossen. In ihrer Mitte lag das Opfer. Es handelte sich um ein Huhn. Glasscherben und Federn verteilten sich um den zerschmetterten Vogelkörper, vereinzelte Daunen wurden weggeweht. Eine alte Frau schluchzte, Kinder zeigten mit offenen Mündern auf das arme Getier. Allen hatte es die Sprache verschlagen, so dass das Wimmern der Frau noch einmal lauter durch die Gassen schallte. Die Szene erschien umso absurder, als direkt neben der Menschentraube mindestens zwanzig quicklebendige Hühner im Staub herum pickten. Als die alte Frau sich aus der Hocke erhob, konnte ich erkennen, dass ihre Hände blutverschmiert waren. Sie hatte in ihrer Trauer ihr liebstes Huhn innigst umarmt. Dann zeigte jemand in meine Richtung. Ich zog den Kopf zurück.
„Philipp! Weißt du, was du da getan hast?“
Ich schmunzelte. „Ein Huhn geschlachtet?“
„Du hast eine Bombe auf die armen Dorfbewohner geworfen!“
„...und einen fetten Vogel abgeschossen.“ Mein Herz hüpfte vor Belustigung.
„Sie werden sich rächen.“
„Die Bhutaniker? Die können doch keinem Tier was zuleide tun.“ Erst jetzt bemerkte ich das Wortspiel. Mein Kater war wie weggeblasen. Die Kraft kam zurück.
Janine wandte sich angewidert ab. „Du bist ein Ekel.“
„Jetzt übertreib mal nicht. Es war auch deine Schuld.“
„Was du gemacht hast, ist Hiroshima“, übertrieb sie.
„Ach, bla, bla. Ich habe dich gerettet! Das habe ich getan!“
Sie ging zu ihrem Bett und ließ sich rücklings darauf fallen. Ich wagte noch einmal einen Blick nach draußen. Die Aufräumarbeiten hatten begonnen.
Dann klopfte es wie wild an der Tür. Ich dachte schon, der Mob habe sich versammelt, mit Heugabeln und Fackeln, und verlange die Herausgabe des Übeltäters. Doch dann erkannte ich die Stimme von Kim. Sein Getrommel wurde immer dringlicher, und bald waren es beide Hände, die gegen das Holz hieben. Janine rührte sich nicht mehr. Folglich ging ich zur Türe und zog sie auf.
„Ahh. Phili“, sagte Kim erleichtert.
„Hallo Kim... Ich...“
„Gut, dass da bis. Blauch Phili, schnell. Blauch Janine, aba Phili bessa. Blauch Aaz.“
„Einen Arzt? Das Huhn ist tot.“
„Huhn tot. Tlotzdem blauch Aaz.“
„Es tut mir leid, was passiert ist, Kim. Ich weiß nicht, wie ich es wieder gut machen kann...“
„Nix gut mach, Phili. Kinda schull. Wia klieg Kinda von Wohnung obe. Üba Janine Wohnung. Versteh. Kinda weafe Flasche, weil Kinda besoffe. Flasche von Schnaps von Leis.“
„Ihr habt Kinder festgehalten? Sie sind die Schuldigen?“
„Ja. Kinda schull. Kinda Gefängnis.“
„Was?“ Ich traute seinen Worten nicht. „Ihr habt Kinder ins Gefängnis gesteckt?“
„Sie könn nix bezahl Huhn. Eas wenn Elta bezahl Huhn, Kinda könn geh nach Haus. Jetz Zimma von Polizei. Kleine Gefängnis.“
„Seid ihr sicher, dass die Kinder besoffen sind?“
„Ja, weil wenn nix besoffe, nix welfe Flasche.“
„Ja klar“, gab ich jeglichen Einwand auf. Warum sollten Kinder auch mit Gegenständen, etwa Bällen, werfen?
So war ich zwar entsetzt über die Vorgehensweise, aber zugleich erleichtert, dass man nicht uns die Schuld zuwies. „Und wie soll ich euch bei der Suche nach einem Arzt helfen, Kim?“
„Du Aaz, Phili“, sagte er irritiert.
„Warum braucht ihr überhaupt einen Arzt? Ich bin kein Arzt. Ich bin... ich bin Buchhalter. Dies und das, du weißt schon...“
„Nei, nei, nei“, bestürmte er mich. Phili Universität Deutschlann. Phili bessa als Aaz von Bhutaan. Aaz füa Flau.“
Ich erwiderte: „Ich glaube nicht, dass...“ Doch Kim riss mich schon am Arm mit. An der sprachlosen Menschenmenge vorbei, zog er mich ins Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses. Ich kam in einen Gang, der feucht roch. Der gestampfte Erdboden strahlte Kühle aus. In einem Hinterzimmer standen einige Leute um ein Bett herum. Durch ihr Flüstern hindurch ließ sich ein leises Jammern und Stöhnen vernehmen. Kim schob zwei Männer beiseite und gab so den Blick frei auf die alte Frau. Ihre Tracht war blutverschmiert, ebenso das Bett, auf dem sie lag. Nun wurde mir klar, dass das viele Blut an ihren Händen nicht vom Huhn stammen konnte. Bei genauerer Betrachtung, zu der man mich händeringend aufforderte, stellte ich fest, dass in ihren Handflächen unzählige Glassplitter staken, teilweise blutete sie immer noch. Ich blickte mich um, alle sahen mich gespannt an. Kim stieß mir in die Rippen. Der Brustkorb der alten Frau bebte, um den Mund herum zitterte sie, die Nasenflügel bewegten sich schnell und unter den geschlossenen Augenlidern schnellten die Augäpfel hin und her. Mir blieb nichts übrig, als die Glassplitter aus ihren Händen zu puhlen. Manchmal schnitt ich mich dabei, aber nur leicht. Die alte Frau stöhnte von Mal zu Mal vor Schmerzen, dann wieder seufzte sie vor Erleichterung. Noch immer ging ihre Atmung schnell. Man konnte ihr Herz rasen hören, während die Herzen der Umstehenden innegehalten hatten und ihrer aller Atmung für die gesamte Dauer der Operation auszusetzen schien. In ihrer unendlichen Trauer musste sie den von den Schrapnellen der flaschenförmigen Mörsergranate getroffenen Leib des Huhns geknetet haben, ansonsten ließ sich diese Fülle an Scherben in ihren Handflächen und Fingerkuppen nicht erklären. Erst nach etwa einer Viertelstunde war ich mit meinem Chirurgenwerk fertig. Sobald ich den letzten Splitter herausgezogen hatte, machte die Greisin einen Seufzer der Erleichterung und ihr Beben und Zittern ließ nach. Sie schien sofort in eine Art Starre gefallen zu sein.
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