Kim umarmte mich vor Freude. Die Angehörigen und Bekannten der Patientin taten es ihm nach. Ein junges Mädchen mit rabenschwarzem Haar sah mich bewundernd an, als es die Hände verband, nachdem ich diese mit Reisschnaps desinfiziert hatte.
Ich kehrte zu Janines Wohnung zurück und klopfte sie aus dem Schlaf, in den sie in Ermangelung an alkoholischem Treibstoff gesunken war. Sie sah nicht glücklich aus. Allmählich wurde der Griff kräftiger, in den sie ihr Kater genommen hatte. Sie fasste sich an die Stirn und ich brachte ihr ein Glas Wasser, bald ein weiteres. Kalter Schweiß zeigte sich unter ihrem Haaransatz. Sie, die keine Kraft mehr hatte, sich eine Flasche zu holen, bat mich nochmals, ihr ein Antiserum zu besorgen, aber ich lehnte ab. Also fiel sie auf ihr Kopfkissen zurück und ergab sich den Qualen des Entzugs. Ich fragte mich, bei wem ich nun die Hausbesuche fortsetzen sollte. Ich kam mir vor wie der Protagonist eines Schundromans mit dem Titel Der Landarzt von Bhutan .
Kurze Zeit später klopfte es wieder. Abermals war es Kim. Ich erwartete ein dankbares Lächeln, eine Aufforderung zum gemeinsamen Essen, zur Feier, wenigstens die Meldung, dass man die Kinder freigelassen hatten, aber was mir entgegenschlug, war eine Grimasse brunnentiefer Trauer. „Was ist, Kim?“, fragte ich ihn.
„Ohh. Nix gut Tag. Alt Flau tot.“
„Wie?“
„Flau Phili opalia tot. Nix mea lebe.“
„Was?“ Ich hatte Mühe, die Nachricht zu begreifen.
„Flau gestobe vol Schleck.“
„Schreck? Du meinst, ihr Organismus hat versagt?“
„Heaz geh aus, weil Schleck von Unglück.“
„Ein Herzinfarkt?“
„Ja. Kim nix finde Woat. Aba Phili finde Woat.“
Ich bekam weiche Knie und musste mich setzen.
„Phili okay?“, fragte Kim in eifriger Anteilnahme.
„Es geht schon, danke“, sagte ich. Dann schüttelte ich den Kopf. „Sie hatte also einen Herzstillstand“, nahm ich niedergeschmettert Notiz von der Katastrophe, die ich verschuldet hatte.
„Heut Beeadigung.“
„Heute noch? Warum habt ihr es so eilig?“
„Blauch in Bhutaan. Schnell Beeadigung.“
Ich rieb mir die Nase. „Eure Bräuche kenne ich, Kim. Wie war das nochmal mit Frau verleihen?“, setzte ich zum Scherz an, aber mir fehlte jegliche Laune, um meine Frage mit einem Lächeln zu unterlegen.
Über Kims Kopf stand ein imaginäres Fragezeichen.
„Was ist mit den Kindern, Kim?“
„Besoffe Kinda?“
„Wenn du so willst, ja, die meine ich.“
„Polizei Kinda wegbling, weil Flau gestobe. Muss untersuch Kinda in Thimpu.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“, grummelte ich und sah dabei auf den Boden. Ich butterte mein Gewissen unter wie einen Kopf beim Waterboarding.
„Familie von Flau will Lache füa Tod. Familie von Kinda muss gebe Flau füa Albeit von andele Familie.“
„Rache? Mir reicht's mit euren Bräuchen“, schnaubte ich.
„Phili komm Beeadigung?“ Kim sah mich bittend an.
„Ich, ähh...“
„Muss komm, sons nix gut füa Phili in Stadt. Bessa komm.“
Ich presste die Lippen zusammen. „Meinetwegen. Wann?“
„In zwei Stunde. Kim hol Phili ab. Un Janine.“
„In Ordnung. Du findest mich hier.“
„Jaja, schon weiß. Phili un Janine Liebepaa.“
„Wir? Ein Liebespaar? Nein, Kim, das geht zu weit! Ich helfe hier nur einer Freundin. Ich bin verheiratet.“
„Helfe tlinke“, sagte Kim und sah mich mich mit Verschmitztheit an, die für einen Augenblick seine Trauermaske durchbrach. Und leiser, fast flüsternd fügte er an: „Phili veaheilat. Kim veaheilat.“ Dann ging er schweren Schrittes die Treppe hinunter.
Ich setzte mich zu Janine aufs Bett. Die ungewaschenen Haare hafteten ihr an der Stirn, flachsfarbene Strähnen verteilten sich auf dem Kopfkissen. Ein eigenartiges Aroma ging von ihr aus, ich öffnete das Fenster, um ein frisches Lüftchen hinein zu lassen.
Als sie erwachte und mich neben sich sitzen sah, erschrak sie, dann aber löste sich ein Lächeln aus ihrer starren Miene.
„Na, geht’s uns jetzt besser?“, fragte ich.
„Pff.“ Sie setzte sich im Bett auf und horchte in sich hinein. „Etwas besser, ja. Jetzt könnte ich einen Schnaps gebrauchen.“
„Nix da. Heute ist eine Beerdigung. Wenigstens da kannst du doch mal nüchtern bleiben.“
„Als hättest du nicht auch gesoffen, gestern. Und auf einmal bist du hier der Moralapostel?“ Sie kratzte sich am Hinterkopf. „Was hast du gerade gesagt? Beerdigung?“
Ich erklärte ihr alles, worauf sie mir vor Bestürzung das Kopfkissen an den Schädel warf und mich einen Verbrecher schimpfte. Ich erwiderte, dass, wenn sie nicht mit mir um die Flasche gekämpft hätte, wir es nur mit einem besoffenen Huhn zu tun gehabt hätten, mit einer Notschlachtung, einer Vogelleiche. So aber sei es zu diesem Unfall gekommen, in dessen Folge nun die alte Frau an der Seite ihres geliebten Haustiers bestattet werde. Sie nannte mich einen Zyniker und Unmenschen, erklärte sich nach einer Weile des Zauderns jedoch bereit, mich zu begleiten.
Nach unserer kräfteraubenden Diskussion nahm sie ein Bad. Sie ließ es sich nicht nehmen, nackt durch die Wohnung zu stolzieren, so als wollte sie immer noch demonstrieren, was ich mir entgehen ließ. Doch von Stunde zu Stunde fühlte ich mich immuner gegen diese Reizattacken auf mein libidinöses Nervensystem. Mochten die Hormone vielleicht kochen, diesmal hielt ich den Deckel drauf. Meine Entschlusskraft ließ mich meine Ziele klarer sehen und jegliche Ablenkung wie ihren saftigen, vollen Leib in einen nebulösen Hintergrund treten. Doch es war nicht die Abkehr vom Alkohol, die mir diese ungewohnte Sichtschärfe verlieh, sondern das Abstreifen von einem anderen, einem älteren Hemmschuh. Ich enthäutete mich einer schlechten Eigenschaft.
Während sie auf ihrem Bett saß, noch immer halbnackt, und sich mit einem Handtuch die Haare trocken rubbelte, sprachen wir kein Wort. Inzwischen hatte ich wieder Hunger. In einem Schrank fand ich ein paar haltbare Kekse, die sie wohl im Flieger hatte mitgehen lassen, denn es stand KLM darauf. Die Kekse bewirkten eine oberflächliche Sattheit, ohne meinen Geschmackssinn in irgendeiner Weise zu behelligen. In den letzten Wochen hatten sie ihre ohnehin geringe Würze gänzlich verloren. Ein menschlicher Geniestreich, dachte ich, der Natur hingegen gelang es irgendwie nie, nährreiche Früchte ohne jeden Geschmack anzubieten.
Noch bevor der Hunger erlosch und ich die letzte Zungenladung Keksbrei schluckte, hatte ich einen Geistesblitz. Was hatte ich gerade gelesen? KLM. Soweit ich mich entsinnen konnte, war dies das Kürzel für die Niederländische Königliche Luftfahrtgesellschaft. Hatte ich nicht Janine dabei belauscht, wie sie am Telefon ein astreines Niederländisch sprach? Hatte ich nicht daraufhin gemeint, dass ihr Schweizer Akzent etwas Aufgesetztes an sich hatte? Gleich nach den Beisetzungsfeierlichkeiten würde ich sie zur Rede stellen.
„Ich hab Hunger“, bemerkte Janine und drehte sich zu mir um.
„Hier.“ Ich hielt ihr die halbe Kekspackung hin. „Die muss ein holländischer Tourist hiergelassen haben.“
Sie sah mich aus den Augenwinkeln an und vielleicht hatte sie die Ironie aus meiner Bemerkung herausgehört, denn sie ließ nur ein kleinlautes Ja, wahrscheinlich vernehmen.
Es dauerte nicht lang und Kim machte sich wieder durch Klopflaute bemerkbar.
In der Tür erschien sein Betroffenheitsgesicht. Bedrückte, verdüsterte Augen sahen an mir vorbei zu Janine, die sich das Handtuch vor die Brust hielt und sich vom Bett erhoben hatte.
„Gut Tag, Janine“, sagte er tonlos.
„Hallo, Kim“, antwortete Janine und schlug die Augen nieder.
„Ia komm Beeadigung, beide?“
Ich überließ es Janine, die Antwort zu geben.
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