Stallmeister hat jetzt Hunger. Er überredet Kerstin, deren Augen feucht sind, hinunter zu gehen. Tränenüberströmt und ohne sie zu beachten rennt Nicola an ihnen vorbei zum Hotel. Die Leute haben schon die Plätze an den Tischen eingenommen. Da sitzen sie und warten auf den Leichenschmaus, den besten Teil einer jeden Beerdigung - oder Bewasserung, wie man das heutige Spektakel treffender nennen sollte. In der Ferne, wo man den Himmel nicht vom Meer unterscheiden kann, flackert ein hellgelber Punkt.
Als wäre es verabredet gewesen, sind an Jim und Trogberts Tisch noch zwei Plätze frei. Der Touristenbetreuer winkt ihnen zu und sie nähern sich. Trogbert gefällt es sichtlich, dass sie gekommen sind. Er begrüßt die beiden überschwänglich und macht Anspielungen auf den Surfkurs. Jim hat noch Tränen in den Augen, die Beisetzung hat ihn mitgenommen, seltene Spuren in seinem sonst makellosen Gefühlskleid hinterlassen. „Die Trauernde“, erfahren sie von Trogbert, „will sich später auch noch zu uns setzen. Nur jetzt ist ihr nicht danach.“
„Kein Wunder“, sagt Kerstin.
Alle blicken Stallmeister an, aber dieser sagt nichts.
„Schlimm, die Geschichte mit dem Hund“, meint Trogbert.
Jim verzieht theatralisch das Gesicht. „Ja. Würklik!“
„Sprechen wir nicht mehr darüber“, befindet Stallmeister.
„Rue düses Wösen ün Früden“, sagt Jim mit brechender Stimme. Dann schüttelt er ungläubig den Kopf.
„Beinahe hätten wir heute eine weitere Leiche zu beklagen gehabt“, meint Trogbert zu Jim.
„Wos?“
„Die Surflehrerin. Sie ist fast ertrunken.“
„Wie bütte?“ Jim traut seinen Ohren nicht.
„Stallmeister hat sie gerettet“, informiert der Architekt ihn trocken. „Dann hat er uns gerettet. Er hat uns über den Strand gefahren. Große Leistung, mein Lieber!“
Jim sieht Stallmeister an und es erscheint ein Lächeln auf seinem tränengeröteten Gesicht. „Ja, Justin hot mür das schon örzählt. Du büs großortig göfohren.“
Stallmeister ist die Lobhudelei peinlich. „Na, ja.“
„Die Straßen hier sind ja richtig gefährlich“, nimmt Kerstin das Thema zum Anlass, sich zu echauffieren.
„Fünde ik nikt“, meint Jim. „Wönn mon fohren konn... “
Es müsste mehr Ampeln geben, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Bremsschwellen, beschwert sich Kerstin.
Es gebe genug Ampeln. Zu viele, meint der leidenschaftliche Autofahrer mit dem Hang zu sentimentalen Ausbrüchen. Dann fällt ihm eine Anekdote ein. Dass es hier auf einer der Nebeninseln keine Ampel gebe, erwähnt er stolz. Nicht eine einzige, noch nicht einmal an der größten Kreuzung des Ortes. Dort gebe es nach englischem Vorbild einen Kreisverkehr.
Trogbert greift die Bemerkung auf. Manche der dort aufgewachsenen Kinder wüssten dann noch nicht einmal, was das sei, wenn sie einmal in Honululu, Waikiki, Tiki-Taka oder sonstwo die Straße überqueren wollten.
Der Halbvietnamese stimmt ihm zu, sagt aber, diese rückständigen Polynesier brauche man in Honolulu sicher nicht.
Trogbert entrüstet sich über diese abschätzige Bemerkung, kommt dann aber wieder auf das Thema Ampeln zurück. Er wolle unbedingt mal auf diese Insel. In Indonesien gebe es die Gili Islands, wo Fahrzeuge verboten seien. Dort habe er nie eine Ampel gesehen. Aber dort, wo es Fahrzeuge gebe, müsse es auch Ampeln geben. Stallmeister sieht Kerstin entnervt an.
Trogbert ist in Fahrt. Irgendwie, sagt er, komme ihm da die berühmte Aussage von Walter Ullbricht in den Sinn, nach der eine Ampel die Menschen hüben wie drüben jeweils für kurze Zeit zu einer Gemeinschaft mache: Man sehe sich an, warte gemeinsam, starre zusammen auf denselben Punkt, habe dasselbe Ziel. Wie bedauerlich, dass auf dieser Insel niemand in den Genuss dieser spontanen Gemeinschaften komme. Über diesen Gedanken Ullbrichts wisse er auch nur durch einen Zeitungsartikel über Kim Jong Un. In diesem wurde auch kurz dessen legendärer Großvater porträtiert. Kim Il Sung habe alle Bücher und Schriften des großen Ullbricht studiert, und deshalb sei auf sein Geheiß Pjöngjang zur Stadt mit den meisten Ampeln pro Einwohner geworden, obwohl dort kaum Autos führen. Alle Pjöngjangnesen hielten sich sklavisch an die Verkehrsregeln, auch wenn nur Steppenbusch vom Wind über die Straße gefegt würde. Gruppenbildende Maßnahmen, sozusagen. Kim Il Sung habe sich davon einen größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft erhofft, mehr sozialistische Brüderlichkeit mit Kuss von Mund zu Mund unter Männern. Später habe er aber festgestellt, dass Gewehre für denselben Zusammenhalt sorgten. Die Asiaten würden in Sachen Ampeln zum Extremen neigen. Die Hauptstadt von Bhutan, jenes verwunschenen Landes im Himalaya und Shangri-Las der Reichen, sei die einzige Hauptstadt der Welt ohne Ampel. Den Tractatus socialistico-philosophicus von Ullbricht, der seine großartigsten Überlegungen zu Gott und der Welt beinhalte, habe er nie gelesen. Kim Il Sung, also der Vater von Kim Jong Il, dem Vater von Kim Jong Un, habe der DDR sämtliche gedruckten Exemplare noch vor der Veröffentlichung für Unsummen abgekauft, bis auf ein einziges, dass im Besitz seines Autors geblieben sei. Dieser habe es bei der Übergabe des SED-Vorsitzes an Honecker mit persönlicher Widmung versehen und seinem Nachfolger geschenkt. Nach dem Ende der DDR sei das Exemplar mit seinem Besitzer nach Chile gelangt. Dort sei es kurz nach dem Tod des sächselnden Saarländers gestohlen worden; zum Unmut Helmut Kohls, der den gesamten Nachlass Honeckers habe kaufen wollen, nach der Nachricht vom Diebstahl aber davon abgesehen habe. Außerhalb Nordkoreas gebe es nur dieses eine Exemplar, und das sei mittlerweile in den Händen einer Splittergruppe des Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfads , einer militanten maoistischen Gruppe aus Peru, deren Anhänger zum Teil vor den Regierungstruppen nach Chile geflohen waren. Natürlich ließen sämtliche kommunistischen Regierungen dieser Welt ihren Geheimdienst nach diesem Buch suchen. Zumal bekannt geworden sei, dass Kim Jong Il sämtliche auffindbaren Exemplare des Buches habe vernichten lassen, weil er ein Zeichen gegen das Buch und für den Film habe setzen wollen. Bücherverbrennung aus ideologischen Gründen, sozusagen. Er sei ein großer Filmliebhaber gewesen. Einmal habe er sogar einen japanischen Regisseur entführen lassen, damit dieser ihm persönlich Filme drehte. Aber das, so sagt Trogbert, sei eine andere Geschichte. Jedenfalls seien Ampeln eine sterbende Spezies. Überall auf der Welt würden jetzt Kreisverkehre gebaut. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Times Square auch in einen Kreisverkehr umgewandelt würde.
Stallmeister ertappt sich dabei, wie er nach einem Stein Ausschau hält, mit dem er dieses Geschwätz verstummen lassen kann.
Jims Gesicht hat sich bei den Ausführungen über die DDR immer mehr verdunkelt. Überhaupt lässt seine Miene jetzt darauf schließen, dass er Trogbert für einen Kommunisten hält. Seine Freundlichkeit dem dicken Architekten gegenüber ist binnen Sekunden nichts weiter mehr als Fassade. Die Stimmung ist nun aber auch am Gefrieren, weil Stallmeister hungrig ist, die Bedienung aber nicht mit seinem Schweineschenkel kommen will. Trogbert isst bereits und nimmt die Tatsache, dass sein Mund voll mit Fleisch ist, zum Anlass, einmal nicht zu reden. Jim hat sich ein Tofusteak geben lassen und kaut lustlos auf diesem herum.
Stallmeister knurrt zusammen mit seinem Magen. Kerstin isst bereits. Sie hat gegrillte Paprika mit „Weißbrot“ bestellt. Missgünstig sieht er Trogbert beim Herunterschlingen seines Steaks zu. Warum hat man einen Mann vor ihm bedient, der noch Tage von seinem Körperfett zehren könnte? Dann sieht er sich Jim an. Warum nur hat Gott einen Menschen zum Mann gemacht, der falsches Fleisch aus Tofu isst?
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