Stallmeister rechnet aus, wie viele Noten er im Laufe des Urlaubs vergeben wird. Er wird sich vorkommen wie ein Lehrer, der Korrekturen mit in die Ferien genommen hat.
Jim verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Die drei gehen nach draußen vor den Haupteingang. Auf der Wendefläche des Parkplatz steht ein Golfmobil. Vorne sitzt ein Mann am Steuer. Ein alter Mann. Sie gehen auf das Fahrzeug zu. Ein sehr alter Mann.
„Hi. I am Justin“, sagt der magere Greis mit ausgetrockneter Stimme und nickt den dreien zu. Er hat einen äußerst dünnen Hals und einen ausgeprägten Kehlkopf. Auf seiner Glatze schimmern Altersflecken. Mit zittriger Hand betätigt er Bremse und Gangschaltung seines Gefährts. „Hi, Justin“, sagt Kerstin als einzige.
Trogbert setzt sich vorne zu dem Mann, der gut und gerne der Vater des deutschen Beinahe-Rentners an seiner Seite sein könnte. Kerstin und er sitzen hinten und halten sich an der Karosseriestange fest.
Mit schwacher Hand lässt Jim den Motor an. Stallmeister bezweifelt, dass der Mann die Kraft hat, das Steuer zu halten. Doch dann ruckelt das lahme Golfmobil auf Rädern, die für Rasenfahrten gemacht sind, über die Hotelzufahrt auf die Hauptstraße. Kerstin und Stallmeister gucken sich befremdet an. Kaum sind sie auf der Straße, beginnen die ersten Autos zu hupen. Kerstin fragt den Fahrer, ob man nicht über den Strand auf die andere Seite der Bucht fahren könne. Der Mann, dessen Nacken über den Faltenwurf einer Schildkrötenhaut verfügt, bescheidet ihr mit krächzendem No , dass es sicherer ist, wenn sie die Straße benutzen.
Nach zehn Minuten Todesangst und dem Einatmen abgasgetränkter Zugluft vorbeirauschender PKWs, biegen sie links auf eine Seitenstraße ab. Kerstin umklammert voller Erleichterung ihren Freund. Trogbert gibt sich Mühe zu lachen. Vor einem einstöckigen Gebäude aus Bambusstäben bringt Justin sein Opa-Mobil zum Stehen. Er wartet, bis sie ihre Sachen herausgenommen haben, dann tuckert er grußlos davon.
Sobald sie vor der Surfschule stehen, kommt jemand heraus. Es ist eine junge, sportliche Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie trägt ein Bikinioberteil und einen bis zur Hüfte hinunter gerollten Neoprenanzug. „Da sind Sie ja“, freut sie sich.
Mit holländischem Akzent spricht sie weiter: „Ich bin Antje, Ihre Surflehrerin. Wenn Sie wollen, können sie mich auch duzen.“
Kerstin macht einen Schritt auf sie zu und reicht ihr die Hand: „Kerstin.“ Die beiden lächeln sich gegenseitig einschätzend an.
Jetzt macht Antje einen Schritt auf Stallmeister zu und hebt fragend die Augenbrauen.
„Mark“, sagt er widerwillig. Das mit dem Duzen geht ihm hier deutlich zu schnell.
„Dieter“, sagt Trogbert verschmitzt, als sie sich den Architekten vornimmt. „Aber du kannst mich Didi nennen.“
Sie muss schmunzeln. „Alles klar.“
Dann wendet sie sich wieder an alle: „Die anderen Surfgäste sind schon drinnen. Wenn ihr eure Sachen angelegt habt, kann es losgehen.“
„Wie sieht es mit den Wertsachen aus?“, fragt Stallmeister und rührt sich nicht vom Fleck.
Wir haben wasserdichte Taschen, damit ihr Geld mitnehmen könnt. Aber wir haben auch einen Safe.“
Als sie hineingehen und ihre Sachen abgelegt haben, muss Kerstin feststellen, dass der Safe nichts weiter ist als eine Metallschatulle. Sie legen ihren Fotoapparat und das wenige Geld hinein. Als Trogbert seine Badetasche präsentiert, meint Antje: „Die brauchst du nicht. Du brauchst den da.“ Sie zeigt auf einen Neoprenanzug. Dieser sieht aus wie die Haut, die man einem mittelgroßen Wal abgezogen hat.
Die Surfschule ist zum Meer hin offen, so dass genug Licht in den ansonsten fensterlosen Raum fällt. Es riecht nach Meer, Sonnencreme und Gummi. An einem Tisch sitzen ein japanisches Pärchen und zwei jugendliche Schweden. Sonst sind nur noch vier Stühle frei. Sie setzen sich und Antje beginnt mit ihrer Einführung. Erst geht es um versicherungstechnische Dinge, dann um Krankheiten und Risiken. Sie spricht ein hervorragendes Englisch, jedoch ohne den holländischen Akzent wie im Deutschen. Danach steht sie voller Tatendrang auf.
Die Anzüge, erklärt sie, müssten anhand der Größe ausgewählt werden, ebenso die Surfbretter. Dann gehe es hinaus auf den Sand, für die Trockenübungen. Da alle Teilnehmer Anfänger seien, würden sie im Inneren der Bucht mit dem Surfen beginnen. Sollten sich rasche Fortschritte zeigen, gehe es im Verlauf der Woche weiter hinaus ins offene Meer. Sie behauptet, ihr Kollege sei in der Stadt, komme aber später zurück.
Aus der Kabine hört man Trogbert beim Umziehen stöhnen. Als er selbst an der Reihe ist und sich mühsam sämtliche Schmerzensschreie verkneift, bereut er bitterlich, am Morgen die Rasur an Brust und Beinen vergessen zu haben.
Als sie alle in ihren hautengen schwarzen Anzügen stecken, machen sie sich auf den Weg zum Scheitelpunkt der Bucht. Antje erklärt, dass sie ihr die nun folgenden Übungen nachmachen sollen. Trogbert steht daneben und sieht aus wie ein Frosch, in dessen Teich ein Tanker havariert ist. Kerstin wirkt ausgesprochen sportlich in ihrem kleinen Schwarzen, von den beiden schwedischen Jungen ganz zu schweigen. Die Japaner sehen in dieser Kluft aus wie Japaner. Stallmeister wird heiß. Die Sonne brennt auf sein Gummikleid und er will sich sofort ins Wasser werfen.
Antje legt ihr Surfbrett in den Sand und sich dann auf den Bauch. Dann macht sie ein paar Bewegungen vor: Sie hebt den Oberkörper, zieht dann ein Bein nach, dann das andere. Sie begibt sich in die Hocke und steht schließlich auf. Es wirkt alles ganz logisch und leicht nachvollziehbar. Alle machen es ihr nach, mit mehr oder minder großem Erfolg. Der japanische Mann meint, sie solle die Demonstration wiederholen. Sie wiederholt die Übung, nur in anderer Reihenfolge. Alle machen sie nach. Mit Trogberts B-Note ist sie unzufrieden und dieser bittet sie daher, die Abläufe nochmals zu wiederholen. Wieder ist es eine vollkommen andere Choreographie als zuvor. Klaglos machen alle nach, was Antje ihnen sagt. Dann meint Stallmeister aus Jux, sie solle die Schritte nochmals vormachen. Sie Bewegungsabläufe sind auch diesmal vollkommen neu. Inzwischen sind alle ziemlich verwirrt. Also schlägt er vor, sie solle es im Wasser probieren, in gewohnter Umgebung mache man intuitiv alles richtig.
Sie steigt in die Fluten und zieht das Brett hinter sich her. Als das Wasser ihr bis zur Hüfte reicht, zieht sie das Board zu sich heran und legt sich umständlich darauf. Dann paddelt sie hinaus. Die Wellen werden stärker, und Stallmeister ist sich nicht sicher, ob er noch irgendetwas erkennen kann, was ihm später weiterhelfen könnte. Man kann erahnen, dass sie gerade versucht, auf dem Brett aufzustehen. Alles sieht ziemlich wacklig aus. Der Japaner sagt irgendetwas Japanisches zu seiner Frau. Alle Kursteilnehmer starren wie gebannt auf die Wellen, zwischen denen Antje gerade die Grundbewegungen des Surfens durchexerziert. Es macht nicht den Eindruck, als würde sie hochkommen, auch nicht bei stillerer See zwischen den Wellen. Mehrfach bricht sie den Versuch ab. Dann steht sie auf. Sie fällt sofort vom Brett. Zwischen den wogenden Wassern sieht man sie wieder am Brett Halt finden. Mühsam kriecht sie darauf. Eine Welle kommt und verschluckt sie. Sie taucht unter ihrem Brett wieder auf. Abermals klammert sie sich an das Stück Holz. Zwei Wellen wirbeln sie herum. Nach weiteren zehn Sekunden liegt sie wieder halb auf dem Board, kriegt aber ein Bein nicht darauf. Eine weitere Welle macht den kleinen Fortschritt zunichte. Ihre Bewegungen werden hektischer, unkoordinierter, als sie wieder aufgetaucht ist und das Brett zum Greifen bekommt. Die zwei schwedischen Jungs reden miteinander, lachen. Dann bricht das Lachen ab. Kerstin ist wie erstarrt, Trogbert hat sich hingesetzt und hält sich eine Hand vor den Mund. Die japanische Frau vergräbt ihr Gesicht in der Achselhöhle ihres Mannes. Stallmeister beschirmt seine Augen mit einer Hand gegen die Sonne. Er versucht zwischen den Reflexionen des Lichts auf dem Wasser irgendetwas zu erkennen, was ihm Aufschluss geben könnte. Antje treibt immer weiter draußen, wo die Wellen stärker werden. Es sieht so aus, als würde sie winken, etwas rufen, aber sie hören sie nicht. Zwischen den Wellen sieht man sie nur noch ab und zu erscheinen. Das Brett ist überhaupt nicht mehr auszumachen, nur noch ein schwarzer Punkt, der Spielball der Meereslaunen geworden ist. Für den Hauch von Sekunden lebt sein Glaube an ihre Surfbefähigung noch. Dann erstirbt er. Stallmeister springt ins Wasser und krault hinaus.
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