Er findet einen größeren Stein, der mit anderen ein Blumenbeet umfriedet, und nimmt ihn heraus. Dann schleicht er sich von hinten an den Hund heran. Hilfsbereite Inder haben ihm gezeigt, wohin er zielen muss. Mit einem genauen Schlag trifft er das Tier zwischen den Augen. Das Geheule stirbt mit seinem Interpreten. Ein kurzes Winseln, und es ist Ruhe.
Plötzlich geht im Bungalow das Licht an. Stallmeister streift dem Hund die Leine über den Kopf und zerrt den nicht gerade leichten Tierkörper in einen nahegelegenen Busch. Der Schlag war beinahe unblutig und so gibt es außer der gelockerten Hundeleine keine Spuren.
„Janina“, ruft eine Frauenstimme. „Wo bist du?“ Die Frau spricht schweizerdeutsch. Das Verandalicht wird angemacht. Er wirft den Stein ins Unterholz, stellt sich in den Schatten. Eine junge Frau im langen Schlafhemd tritt auf die Veranda. Als sie die hundelose Leine sieht, erschrickt sie. „Janina? Mein Gott! Janina!“
Er versucht, so leise wie möglich zu atmen, aber das ist gar nicht nötig, die Schweizerin spricht aufgeregt vor sich hin, sie läuft um den Bungalow und kurz in den Palmenhain hinein. Immer wieder ruft sie den Namen ihres Hundes. Dann kehrt sie wieder zurück. Sie macht zwei Meter vor Stallmeister halt. Ihm bleibt das Herz stehen. „You, stop hiding. Come out!“
Er erschrickt, aber dann bemerkt er, dass die Spitzen seiner Flip-Flops aus dem Schatten der Palme herausragen. Notgedrungen macht er einen Schritt ins Licht. Sie sieht ihn feindselig an. Ihre Wut ist so groß, dass sie offenbar keine Angst vor ihm hat, obwohl er als Mann nachts um ihren Bungalow herumschleicht. „Where is my dog?“, herrscht sie ihn an.
„Sie können deutsch sprechen“, sagt er mit so unschuldiger Stimme wie möglich.
„Wo ist meine süße, kleine Hündin? Sagen Sie schon!“
„Ich habe keine Ahnung, wo Ihr Hund ist“, lügt er.
„Und was machen Sie dann hier?“
„Ich habe den Hund gehört und wollte wissen, warum er so jämmerlich... ähm... weint.“
„Sie hat nicht geweint!“
„Dann eben jault .“
„Janina jault nicht!“ Das Gesicht der Schweizerin sieht jetzt aus, als wolle sie ihm an die Gurgel.
„...warum er nicht schläft “, verbessert sich Stallmeister.
„Und dann war nur noch die Leine da?“, will sie wissen.
Schauspielernd zuckt er mit den Schultern. „Die Leine habe ich gar nicht gesehen.“
Sie glaubt ihm. Zögerlich kommt sie auf ihm zu. „Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe, aber ohne Janina kann ich nicht leben. Niemals.“ Sie hält ihm die Hand hin. „Ich heiße Nicola.“
Er reicht ihr die Hand. „Ich bin Mark. Er wird schon zurückkommen.“ Erstmals lässt ihn der kaltblütige Totschlag frösteln.
„ Sie ! Sie wird zurückkommen. Sie muss zurückkommen!“
„Hunde kommen immer zu ihren Herrchen zurück“, sagt er. Er weiß genau, dass sich Hunde immer verlaufen.
„ Frauchen . Ich bin ein Frauchen. Merken Sie sich das!“
„Okay. Frauchen . Sie können mich übrigens duzen.“
„Du mich auch“, sagt sie und plötzlich fällt sie ihm an die Brust und weint los. Er tätschelt ihr die Schulter, dann streichelt er ihr zurückhaltend die Haare. Sie ist vollkommen aufgelöst und er spürt ihre Tränen durch sein T-Shirt sickern. Er meint eine Spur von Likör in ihrem Atem ausmachen zu können.
Die beiden setzen sich auf die Stufen der Veranda und sie zündet sich eine Zigarette an. Stallmeister, der seit dem Start in Deutschland nicht mehr geraucht hat, lässt sich ebenfalls eine Zigarette geben. Er findet, ein Mord ist ein feierlicher Grund, die erste Zigarette zu rauchen. Die schmeckt jedoch ekelhafter als das Bier vorhin und er muss husten.
Nicola klopft ihm auf den Rücken. „Nichtraucher, was?“
„Nein“, keucht er. „Aber die hier ist schrecklich.“
Sie wird nachdenklich. „Morgen muss ich Janina suchen. Du musst mir helfen, sie zu suchen.“
„Ja“, sagt er unaufrichtig, um dann auch noch sich selbst etwas vorzumachen: „Aber sie kommt sicher schon vorher zurück.“
„Und was mache ich in der Zwischenzeit?“, fragt sie und schaut ihn Mitleid heischend an.
„Schlafen“, sagt er.
Sie bläst Rauch aus. „Ich kann nicht schlafen, so lange Janina nicht bei mir ist.“
„Dann musst du etwas lesen“, schlägt er arglos vor.
„Ich kann nicht lesen, wenn nicht irgendjemand bei mir ist“, gibt sie zurück.
„Dann musst du eben wachliegen“, sagt er und steht auf. Die halb gerauchte Zigarette landet in dem Busch, in dem der Hund liegt. Er überlegt, wie er den Kadaver dort weg bekommt, bevor sie ihn womöglich am nächsten Tag findet.
„Bleib du doch bei mir“, fleht sie und klammert sich im Sitzen an sein Bein.
„Oh, nein“, sagt er. „Ich muss zurück zum Hotel. Meine Freundin... “ Er kann sich befreien.
Sie zieht ihr Schlafhemd über die Knie hoch und entblößt ihren Slip. „Bleib bei mir“, flüstert sie und drückt die Zigarette aus.
„Ich würde gerne“, sagt er, furchtbar in Versuchung. Gerne würde er es jetzt doggystyle mit ihr treiben, und seine Lust wirft ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Knüppel zwischen die Beine. Eilig zieht er sein T-Shirt weiter nach unten. „Aber es geht wirklich nicht. Tschüss, Nicola.“
„Tschüss“, sagt sie enttäuscht, bevor er entschwindet. “Kommst du morgen zum Suchen?“
Er antwortet nicht mehr.
In der Lobby des Hotels wartet er. Dann steigt er über die Terrasse wieder die Treppe hinunter. Er schleicht sich zum Strand und macht einen weiten Umweg um den Palmenhain, um sich dann von hinten an den Bungalow heranzupirschen. Eine Weile muss er suchen, dann findet er den Busch wieder, in dem Janina ihren ewigen Schlaf schlummert. An den Vorderläufen zerrt er den Corpus Delicti zwischen den anderen Bungalows und Palmen hinunter zum Meer. Manchmal bleibt er damit an Büschen, Steinen oder heruntergefallenen Palmwedeln hängen, die er in der Dunkelheit nicht sieht. Manchmal stößt er mit dem Rücken an einen Palmenstamm. Die Arbeit der Nacht kostet ihn eine Menge Kraft und da er trotz Restrausch aufgewühlt ist, hofft er, dass die körperliche Betätigung ihn so erschöpft, dass er noch ein paar Stunden Nachtruhe bekommt, bevor er sich am nächsten Morgen in Gefahr begibt, wie das Tier als Wasserleiche zu enden. Er betet, dass er keine tiefen Spuren im Sand hinterlässt, über den er die Leiche ins Wasser zieht. Die Sterne werfen ihr dünnes Licht auf den leblosen Hundekörper, dessen Gliedmaßen von der Brandung hin und her bewegt werden. Stallmeister murmelt eine Seegrabrede mit den Worten zu dir nehmen oder den Fluten übergeben oder in Frieden leben. Dann streift er Flip-Flops und Shorts ab, watet ins Wasser und schleudert das Ding mit aller Kraft einen Meter hinaus. Wellen verschlucken es und es treibt ein Stück ab, bevor es sinkt.
Blut dürfte nirgendwo zurückgeblieben sein. Der Hund wies nur oberhalb der Nase eine kleine dunkelrote Einfärbung des Fells auf. Sollte man den Leichnam finden, wird es aussehen, als wäre es ein Badeunfall gewesen. Die Methode, die er angewandt hat, ist schnell, sauber und stubenrein. Die Inder nennen sie aus diesem Grund die Windhund-Methode.
Stallmeister wischt den Sand dort glatt, wo der Pflug aus Fleisch und Fell eine Furche gezogen hat. Dann macht er sich endgültig auf den Rückweg. Im oberen Hotelflur lauscht er an der Tür des Nachbarzimmers; es fühlt sich wie eine Revanche an. Der Gast schnarcht, als wolle er die Geräuschproduktion brasilianischer Waldarbeiter durch den Kakao ziehen. In Stallmeisters Zimmer stöhnt Kerstin leise auf, als er sich ins Bett legt. Obwohl er abgekämpft und sein Kopf leer ist, kann er nicht schlafen, weil sein Körper wieder nach einer Zigarette verlangt. Die vorhin hätte er niemals rauchen dürfen. Er hatte nicht nur keine Zigarette mehr gebraucht, er hatte sogar vergessen , dass ihn der lange Flug entwöhnt hatte. Er hat nicht einmal mehr Zeit gehabt, stolz auf sich zu sein, und jetzt ist er wieder vollständig abhängig. Irgendwo in seinem Gepäck müssen die Duty-Free -Zigaretten stecken, die man dort am billigsten kaufen kann, wo man sie nur in verqualmten Boxen rauchen darf. Aber er kann sie nicht lärmend raus kramen. Er kann Kerstin nicht wecken, nur weil er jetzt leidet.
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