Als Köppcke und Hansen bei der Musikbühne am Fuße der Turmhügelburg eintrafen, nahmen sie mit geschultem Polizistenohr schon aus einiger Entfernung wahr, dass etwas nicht stimmte. Als sie näher kamen, sahen sie, dass die Musiker, Tänzer und diverse Händler aufgeregt miteinander sprachen, wenngleich sie gleichzeitig bemüht schienen, eben dies nach außen zu verbergen. Sie schauten sich immer wieder verstohlen über die Schulter und gelegentlich zischte einer ein „Psst, leise!“ in die Runde.
Die Routine brauchte nur wenige Sekunden – von jetzt auf gleich war Knut Hansen wieder knallharter Vollblutpolizist. Er baute sich inmitten der aufgeregten Menschentraube auf und sagte: „So, meine Damen und Herren – was ist hier los?“ Die folgende Stille war unheimlich: Im Kreis um den Kommissar herum standen ein knappes Dutzend mittelalterlich gewandeter Personen, die ihn verdutzt anguckten.
Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, was nicht stimmte. Sein üblicher, bestimmter Auftritt, der ihn in der Regel sofort für jedermann klar als Polizist kennzeichnete – funktionierte nicht. Das lag vielleicht daran, dass er in der linken Hand ein Brot, in der rechten ein Trinkhorn und auf dem Kopf einen gefiederten Hut trug. Dass hinter ihm ein mit Helm gut 2,10 m großer, roter Ritter mit riesigem Schwert stand, machte die Situation für die Umstehenden nicht wirklich leichter durchschaubar. Ganz sicher war Knut Hansen schon irgendwann einmal in seinem Leben rot geworden – er konnte sich nur nicht daran erinnern, wann. In diesem Moment aber floss das Blut mit einem solchen Druck in seinen Kopf, dass er tatsächlich das Gefühl hatte, seine Ohren würden anschwellen. Schnell riss er sich den Feder-Hut vom Kopf, setzte seine Seemannsmütze wieder auf und versuchte möglichst souverän Hut, Brot und überschwappendes Horn unter seinen Arm zu klemmen und damit außer Sicht zu bringen.
„Verzeihung – ich bin Hauptkommissar Hansen vom vierten Kieler Polizeirevier und der Drachentöter hinter mir ist Oberkommissar Köppcke – gibt es hier ein Problem?“ Eine Frau löste sich aus der Gruppe und es sprudelte aufgeregt aus ihr heraus: „Wir sind bestohlen worden! Jemand ist während der einzelnen Vorstellungen durch die Garderobenzelte gegangen und hat eine Menge an Wertgegenständen mitgenommen – Portemonnaies, Kreditkarten, Handys – alles, was die Kollegen unter den Kostümen nicht mit sich rumtragen wollten. Außerdem fehlen die Gage der Musiker und drei Geldkassetten, die die Händler während ihrer Pause verschlossen am Stand gelassen haben. Da das meiste hier zum Selbstkostenpreis veranstaltet wird, sind das fast hauptsächlich private Gelder ... Wir werden wohl in Zukunft alle mit Tresoren hier anreisen und unsere Geldbeutel mit Ketten sichern müssen“. Angewidert schüttelte sie den Kopf. „Ich könnte mich vergessen, wenn ich mir vorstelle, dass irgendein Kerl unsere Vertrauensseligkeit missbraucht ... für ein bisschen Geld.“
Hansen vermisste seine Pfeife, die er im Auto liegen gelassen hatte. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr rauchte – hatte er sie zum Denken gern im Mund. „Von wie viel Geld reden wir denn hier?“ Die Frau schüttelte wieder wütend den Kopf. „Ach, alles in allem vielleicht 1000 Euro und eben das, was der Dieb aus den Kreditkarten, den Handys und so herausschlagen kann – die Betroffenen haben aber alle schon die Banken angerufen und die Karten sperren lassen. Vermutlich hatte der Dieb gedacht, es würde etwas länger dauern, bis das Ganze auffliegt. Wahrscheinlich ist der Wicht sogar noch hier auf dem Gelände. Ich wette, dass der hier noch unerkannt in feinster Gewandung herumspaziert und sich ins Fäustchen lacht. Wahrscheinlich klaut er jetzt gerade noch was und wir können nichts tun. Am liebsten würde ich mich mit ‚ner Streitaxt in der Hand direkt ans Drehkreuz stellen und am Ausgang jeden abtasten, der rauskommt. Aber das geht natürlich nicht – wenn sich herumspricht, dass hier im großen Stil geklaut wird, wäre der Schaden ungleich größer als er es jetzt ist. Es ist doch zum aus der Haut fahren! ... Ich ...“ die junge Frau brach in Tränen aus und wandte sich ab. „Aber, aber – holde Maid. Wer wird denn gleich weinen.“ Hansen setzte sich seinen Federhut auf und zwinkerte der Frau zu, wofür er ein zaghaftes Lächeln erntete. „Ich sage Ihnen‚ was – haben Sie eine Verbindung zur Kasse? Telefon, Funk oder so?“ Verunsichert blinzelte sie ihn an: „Wir haben Walkie Talkies, wieso?“ Der Kommissar fuhr fort: „Ich habe einen Verdacht – wäre ich als Polizist unterwegs, müsste ich jetzt Verstärkung von der zuständigen Wache holen und diversen komplizierten Richtlinien folgen. Bis das alles soweit organisiert ist, wäre der Kerl über alle Berge. Glücklicherweise bin ich heute nur Junker Hansen und dies hier ist finsterstes Mittelalter. Daher überlasse ich die Sache dem wütenden Mob. Das wollte ich immer schonmal tun.“ Er lachte gehässig: „Aber jetzt schnell: Funken Sie die Türsteher an, sie sollen sich mit ein paar Mann Verstärkung am Ausgang postieren und auf Heinrich, den Gemüsehändler warten. Mittelgroßer Kerl, schütteres Haar, blaues Gewand – zieht einen Karren mit abgedeckten Körben. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird der ziemlich genau in diesem Moment fertig damit sein zu packen und sich in Richtung Ausgang bewegen. Wenn er kommt, sollen eure Leute ihn bestimmt, aber freundlich vom Publikumsverkehr wegbringen und mal einen Blick unter sein Gemüse werfen. Wenn ich mich irre, müsst ihr euch natürlich entschuldigen – kein Drama. Wenn ich aber recht habe und er hat das Diebesgut bei sich, behauptet ihr einfach, ihr hättet ihn beim Klauen gesehen und haltet ihn fest, bis die Polizei kommt – das dürft ihr dann ganz offiziell. Die Polizei solltet ihr in jedem Fall wegen der Diebstähle rufen. Irgendwer muss das Ganze ja aufnehmen – für den Fall, dass jemand mit den gesperrten Kreditkarten erwischt wird, oder so.“
Die junge Frau machte sich sofort daran, Hansens Instruktionen umzusetzen. Danach kam sie noch einmal zurück.
„Soll ich den Polizisten etwas von Ihnen ausrichten, Kommissar?“ Hansen zog seinen Federhut zurecht und winkte ab. „Nee, nee, regelt ihr das mal alleine – ich bin heute Junker Hansen. Mein Freund, der tapfere Recke Olaf und ich werden nochmal den Burgturm besteigen, ein bisschen Met trinken und dann verschwinden wir von hier. Wir haben heute frei.“
Die beiden Polizisten ließen ihre Methörner auffüllen und bestiegen die Turmhügelburg. Von dort oben konnte man das ganze Gelände überschauen. Der Tag neigte sich dem Ende zu und ein angenehm kühler Abendwind strich den beiden über die sonnengeröteten Wangen. Lächelnd beobachteten sie den in diesem Moment am Ausgangsbereich abfahrenden Polizei-Einsatzwagen. Selbst auf diese Entfernung war Heinrich, der Gemüsehändler im Wageninneren zu erkennen, der gequält aus dem Fenster schaute. Sie sahen den Rücklichtern des Polizeiwagens nach, der sich langsam entfernte.
Köppcke, von Hitze und Met schon arg mitgenommen, wandte sich fragend seinem Chef zu: „Wieder mal recht gehabt, Chef – Ich hab das wieder mal nicht so richtig mitgeschnitten – warum der Gemüsehändler? Warum nicht die Tänzerin oder der Mönch? Oder irgendwer anderes?
„Na ja – da ergab einfach Eins das Andere. Hätte ich mir nach Täterprofil selber einen Täter ausdenken dürfen, wäre dabei zu 100 % Heinrich rausgekommen. Den Ausschlag hat aber wohl gegeben, dass er ganz offensichtlich weder einen blassen Schimmer von Gemüse noch vom Mittelalter hat ...“ Köppcke legte den Kopf schief: „Wieso war das offensichtlich? Waren die Kartoffeln schlecht, oder was?“ Hansen nippte an seinem Horn. „Nee, schlecht nicht – sie hätten gar nicht da sein dürfen. Der gute Mann hat uns eifrig angeblich mittelalterliche Sorten Kartoffeln, Tomaten und Paprika angepriesen – und damit 3 von 3 möglichen Fehlern gemacht ...“ Köppcke runzelte die Stirn und wartete mit verständnislosem Blick den Rest der Erklärung ab.
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