Im Dienstwagen drehte sich Hansen noch einmal zu dem unglücklichen Täter um: „Sehen Sie es als Chance. Viel tiefer als jetzt können Sie durch die Verurteilung gar nicht mehr sinken – machen Sie einen Neuanfang. Halten Sie sich von Ihrer ‚falschen Schwedin‘ fern und suchen Sie sich Arbeit. Über kurz oder lang finden Sie bestimmt eine nette Wald-Elfen-Magierin, die kein Geld von Ihnen will.“
In dem tränennassen Gesicht Scharwattkes zeigte sich der Anflug eines Lächelns. Er atmete tief durch, legte den Kopf zurück und plötzlich schien die Spannung aus dem schmächtigen Mann zu weichen, als hätte jemand eine zentnerschwere Last von seinen Schultern genommen.
Er schaute durch die regennasse Autoscheibe nach draußen und sagte seufzend: „Wer plant denn auch schon einen Überfall an einem Freitag, den 13.?“
Kapitel 4Fall 4: Finsteres Mittelalter
Es war ein brütend heißer Junitag. Knut Hansen hatte dienstfrei. Aus einer Laune heraus hatte der Hauptkommissar seinem Kompagnon Köppcke zugesagt, an diesem Wochenende etwas zusammen zu unternehmen. Die Planung der Unternehmung hatte er dem jüngeren Kollegen überlassen und fragte sich nun, wie klug das gewesen war. Aus den Augenwinkeln musterte er seinen langjährigen Kollegen, den er von der Arbeit her als integren, absolut zuverlässigen Musterpolizisten kannte. Olaf Köppcke, ein durchtrainierter Mann von fast zwei Metern, saß hinter dem Steuer des alten Volvos und trug ein kleidartiges Gewand aus rotem Samt, geziert von einem goldenen Löwen auf der Brust.
Als sie in der kleinen Stadt Lütjenburg, den Anweisungen eines Parkwächters folgend, auf eine zum Parkplatz umfunktionierte Wiese fuhren, brach Hansen das Schweigen, das nun fast die ganze Fahrt von Kiel angehalten hatte: „Erklär‘s mir bitte nochmal, Olaf – was wird das hier?“ Der Kollege winkte lachend ab: „Ruhig Blut, Chef! Ich weiß, es ist etwas ungewöhnlich – aber lassen Sie sich darauf ein, es ist eine spannende Sache“. Der Wagen hielt, sie stiegen aus und Köppcke sprach weiter, während er um den Wagen herum zum Kofferraum ging. „Ich war vor 5 Jahren das erste Mal dabei. Sie wissen doch, damals hatte ich doch meine Susie kennengelernt und die hat mich drauf gebracht“. Hansen kniff die Augen zusammen. Einerseits der blendenden Sonne wegen, andererseits weil Köppcke sich in diesem Moment den Rest seiner Montur anlegte. Mit Helm, Kettenhandschuhen, Schwert und Schild stand der junge Mann vor ihm wie zum Kreuzzug gerüstet und sprach ungerührt weiter: „Das Mittelalter, Chef – hier kann man es erleben – und wenn man möchte, dabei mitmachen. Wie sieht‘s aus – wollen Sie‘s auch probieren? Ich habe noch ein paar Klamotten dabei, die machen Sie im Handumdrehen ein paar hundert Jahre jünger“. Dabei hielt er nacheinander einige altertümlich anmutende Gegenstände – gefilzte Hüte, ein Trinkhorn, ein Kurzschwert und ein sackartiges Leinengewand in die Höhe. „Dies hier würde Ihnen bestimmt gut stehen.“ Knut Hansen winkte lächelnd ab: „Nee, lass mal, Olaf – ich bleibe erstmal in Zivil – als neutraler Beobachter, quasi.“ Köppcke lachte und klappte das Visier des Helms hoch: „Kein Problem, Chef. Ich hatte es auch nicht anders erwartet. Ich selbst habe auch drei oder vier solche Veranstaltungen mitgemacht, bevor ich mein erstes Schwert gekauft habe.“ Er rückte klirrend seinen Gürtel mit dem wuchtigen Schwert zurecht. „Dann wollen wir mal – hier geht‘s lang.“
Sie gingen einen längeren, dicht umwucherten Feldweg entlang. Nach einigen hundert Metern wurde das Gebüsch lichter und gab die Sicht frei. Inspektor Hansen stieß einen Pfiff durch die Zähne. „Donnerlüttchen, Köppcke – so etwas habe ich noch nie gesehen – was ist das alles?“ Der Anblick, der sich ihnen bot, war wirklich imposant. Inmitten grüner, schafbeweideter Wiesen war ein großes Areal von geflochtenen Weidenholzzäunen umsäumt. Darauf standen dicht an dicht weiße Leinenzelte. Mittelalterliche Banner wehten allenthalben und sowohl die Händler, als auch die vielen Besucher schienen aus längst vergangenen Zeiten zu stammen. Am Kopfende des Platzes standen einige urige Fachwerkhäuser, die nur der noch helle Putz als Produkte des 21. Jahrhunderts entlarvte. Das bei weitem Auffälligste an diesem Ort war jedoch der etwa 10 Meter in die Höhe ragende Turm aus mächtigen, klobigen Holzbalken, der etwas abseits des Ganzen auf einem kleinen Hügel stand. Wie eine Burg wurde das Gebäude von einem schilfgesäumten Graben umzogen, dessen trübes Wasser fast vollständig mit Entenflott bedeckt war. „Das, Chef – ist die „Turmhügelburg“. Ein Stück wiederbelebte Geschichte. Ein originalgetreu rekonstruierter Burgturm wie sie hier im frühen Mittelalter im ganzen Land gestanden haben. Hier in Lütjenburg werden mehrmals im Jahr Mittelaltermärkte veranstaltet. Da kommen aus dem ganzen Land Mittelalterfans zusammen, die für ein paar Tage leben wie in alten Zeiten. Händler, Schausteller, aber auch Leute wie Sie und ich – die einfach nur kurz raus aus dem Alltag wollen – verleben hier bei Wind und Wetter eine tolle Zeit. Da klingelt kein Handy – da gibt‘s keine Tiefkühlpizza – einfach grandios … Sie werden sehen.“
Das ungleiche Paar – Köppcke in voller Paladinsrüstung, Hansen in Troyer, Jeans und Seemannsmütze – passierte das Kassenhäuschen und stürzte sich ins Getümmel. Der Hauptkommissar war tatsächlich beeindruckt. Bei näherem Hinsehen wurde natürlich offenbar, dass ein wesentlicher Teil der Besucher ganz normale Straßenkleidung trug – aber das Gesamtbild stimmte. Hansen war ein spröder, eher pragmatischer Typ – seine Kindheit auf Langeoog war geprägt von Hilfsarbeiten im Haushalt und am Hafen und außer durch seine geliebten Kriminalromane war seiner Phantasie nie viel Freiraum vergönnt gewesen. So übte das bunte Treiben einen Zauber auf ihn aus, der ihn völlig unvorbereitet traf. Am ersten Stand blieb er stehen und kaufte spontan einen gefilzten braunen Hut mit gelber Feder und platzierte ihn mit stolzer Miene anstelle seiner Seemannsmütze. „Jetzt bin ich inkognito, tapferer Recke Olaf“, witzelte er und erstaunte seinen Kollegen – so ausgelassen hatte er seinen Chef noch nie erlebt. Lachend deutete er eine leichte Verbeugung an: „Dann folget mir durch das bunte Treiben, Junker Hansen.“
Zusammen schlenderten sie kreuz und quer über den geschäftigen Platz. Sie lachten über finstere Kerle, die an einem gewaltigen hölzernen Pranger ausgestellt waren, standen an einem riesigen, kuppelförmigen Steinofen für frisches Brot an und kauften einem wandernden Mönch Trinkhörner mit Met ab. Sie besuchten das Ritterturnier, bestaunten jonglierende Gaukler und wichen grimmig dreinschauenden Söldnern aus, die ihren Weg kreuzten. In einer Ecke blieben sie stehen, prosteten sich zu und schauten sich begierig danach um, was es als nächstes zu entdecken gäbe, als es direkt hinter ihnen merkwürdig zu rasseln anfing. Kaum hatten sie sich versehen, standen sie inmitten einer Schar orientalisch anmutender, verschleierter Tänzerinnen, die mit wackelnden Hüften und mystischen Handbewegungen um sie herumtanzten. Vielleicht lag es am grellen Sonnenlicht, aber Köppcke hatte den Eindruck, diese Grazien hätten ihre beste Zeit als Tänzerinnen wohl schon länger hinter sich gehabt. Hansen jedoch war offenbar völlig neben sich – mit zusammengekniffenen Knopfaugen fixierte er eine besonders dralle, recht kleine Tänzerin, die die Rolle der Vortänzerin innehatte und den Polizisten mit funkelnden Augen und aufforderndem Fingerspiel bezirzte. Köppcke wurde das etwas unheimlich und so schob er seinen Chef vorsichtig, aber bestimmt in Richtung der nächsten Zelte. Knut Hansens Blick wich dabei nicht von dem grell geschminkten Gesicht der Verschleierten. Erst als sie um eine Ecke bogen und er fast über einen hockenden Händler gestolpert wäre, schüttelte Hansen den Kopf und wurde wieder klar. „Holla die Waldfee! Olaf – hast du die Frau gesehen? ... Beim Klabautermann. Ich wünschte, ich wär‘ nochmal 50.“ „Ja, ja, Chef – schon gut. Schauen wir doch mal, was es hier noch so gibt – Sie da! Was verkaufen Sie?“ Der eben noch am Boden hockende Mann, der gerade dabei war, einige abgedeckte Körbe auf einen Karren zu laden, sprang förmlich auf, um zu antworten. Voller Inbrunst warf sich der in blaues Leinengewand gekleidete Händler ins Zeug, wobei er sein schütteres Haar mit theatralischer Geste aus dem Gesicht strich. „Die edlen Herren mögen meine Unachtsamkeit entschuldigen. Ich bin Hermann, meines Zeichens Gemüsehändler. Ich verkaufe hier nur die beste Ware für wenige Goldstücke. Gerade wollte ich mein Lager abbauen und von dannen ziehen, aber wenn ihr etwas möchtet, würde ich euch mit Freuden bedienen. Ich habe die besten ursprünglichsten Sorten Gemüse.“ Dabei verbeugte er sich und zog die Decke von einem Korb ab, der – wie zu erwarten war – bis zum Rand mit bunt gemischtem Gemüse gefüllt war. „Alles aus uralten frühmittelalterlichen Sorten nachgezüchtet. Ich habe hier Tomaten, Kartoffeln, Paprika – sehen Sie hier – diese Kartoffeln – so etwas gibt es heute sonst gar nicht mehr – genau diese Sorte hat sich schon Richard Löwenherz schmecken lassen.“ Kommissar Hansen runzelte die Stirn und wandte sich lachend zum Gehen: „Löwenherz, wie? ... Nein, danke – ich habe noch genug Gemüse zu Hause ... Recke Olaf! Lasset uns dort hinten die Musikanten aufsuchen – mich dünkt, das große Musizieren will gleich beginnen “ Heinrich, der Gemüsehändler nahm das missglückte Geschäft gelassen, winkte den beiden lächelnd zum Abschied und machte sich wieder ans Einpacken.
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